Wer ist Satprem?

Ein erstaunlicher Wanderer

von Georg Stefan Troller

Vielleicht sollte man zuallererst, für den deutschen Leser, der hier überraschend mit seinem neuesten und reifsten Werk, mit der Essenz seiner gegenwärtigen Erkenntnisse konfrontiert wird, ohne vielleicht die früheren zu kennen, den Verdacht zerstreuen, es handle sich hier um einen Philosophen, Mystiker oder Guru. Satprem ist ein Abenteurer - oder, um mit dem Titel seines allerersten, von ihm nie verleugneten Romans zu reden, ein Goldsucher. Wenn auch einer von denen, die aus exotischen Ländern nicht nur unerhörte Erlebnisse mitbringen, sondern auch einen Schlüssel zu den Fragen, die uns in der Jugend quälen und die genau dieselben sind, mit denen wir uns als Erwachsene herumschlagen: die nach dem Sinn des Lebens, und besonders, was ja wohl auf das gleiche hinausläuft, unseres eigenen Lebens.

Bitte erwarten Sie in dieser kurzen Einleitung nicht, daß ich Satprems Antwort auf diese Fragen erläutere um so mehr, als er gar keine hat. Sein entscheidender Satz lautet: Die Frage ist schon die Antwort. Die Antwort ist schon in der Frage enthalten: in der Intensität, in der Dringlichkeit, in der Unablässigkeit, mit der wir persönlich die Frage stellen. Die Antwort ist, wie die Frage, etwas Erlebtes. Ein Weg, ein Abenteuer. "Das Feuer, das in uns brennt." Alles übrige ist für ihn intellektueller Zeitvertreib, "etwas, das sich nur im Kopf abspielt".

Die häufigste Metapher, die bei Satprem vorkommt, ist die vom Goldfischglas. Er vergleicht uns mit Fischen im Aquarium, die das wahre Leben sehen, die von ihm wissen aus gesteigerten Momenten, aus Ahnungen, aus Träumen, die aber nur schwer zu ihm durchzubrechen vermögen. "La vraie vie est ailleurs", das wahre Leben ist woanders, wie es schon bei Rimbaud heißt. Er selbst nennt diese Augenblicke, in denen wir ganz bei uns selbst sind und die wir auf unser gesamtes Leben ausdehnen müssen: "Ça", "Das". Die Sehnsucht, zu dem "Das" durchzustoßen, die Beglückung, es zeitweise zu finden, die Verzweiflung, es immer wieder entschwinden zu fühlen, durchziehen das vielfältige Werk dieses Mannes, das uns vielleicht gerade deshalb besonders anrührt, weil er ein Mensch des Westens ist, weil er sich kämpfend erobern mußte, was dem Menschen des Fernen Ostens als Geburtsrecht verliehen scheint.

Der ungeheure Weg, den Satprem zurückzulegen hatte, um zum dauernden Besitz seines "Das" zu kommen, hat bei ihm ein sympathisches, ja geradezu rührendes Verständnis für jene von uns hinterlassen, die noch unterwegs sind. Er setzt im Gespräch überhaupt nichts voraus, außer daß wir "Das" brauchen, nicht ohne es leben können. Alles übrige Wissen, sei es politischer, wirtschaftlicher, psychologischer, künstlerischer Art, scheint ihm zweitrangig. Er weigert sich, in die Dualismen einzusteigen, die wir doch für die grundlegenden unserer Zeit halten: Freiheit und Tyrannei, Religion und Materialismus, Sexualität und Sittenstrenge, und so weiter. Er geht davon aus, daß unsere Existenz in West und Ost heute gleich unerträglich und absurd geworden ist, wenn auch aus verschiedenen Ursachen und dank verschiedener Ideale.

In Nord und Süd gibt es so wenig unberührte Natur mehr wie eigenständige Kultur. Überall sind "die Grenzen bewacht, die Fahrkarten geknipst". Wir haben versucht, aus der Welt eine gutgeölte Maschinerie zu machen, aber "alles knirscht". Keiner fühlt sich mehr wohl in seiner Haut, unter welchem System immer. Jeder hat das dumpfe Gefühl, daß wir unweigerlich auf eine Katastrophe zusteuern, die niemand herbeiwünscht, von der aber auch niemand eine Idee hat, wie sie zu vermeiden sei. Denn mit Ideen ist es nicht mehr getan. Erschreckt stellen wir fest, daß auch unsere politischen und geistigen Heroen nicht gescheiter sind als wir. Unsere Träume sind pragmatisch geworden. "Rechts" und "links" läuft am Ende auf eine Sache der Besteuerung hinaus, der Sozialgesetzgebung. Woran soll man heute noch glauben? Es wird offenbar, daß auch die Religionen so versagt haben wie die Ideologien. Die Unsicherheit des modernen Christentums kann anscheinend so wenig zu einer Rettung der Menschheit beitragen wie der Eifer der Ajatollahs. Nun stürzt sich eine ganze Jugend auf den erlösungsträchtigen Osten, der ihr, längst korrumpiert, mit geld- und machthungrigen Heilsträgern aufwartet - letzte Verkünder einer Lehre, die wir nicht rechtzeitig zu nutzen fähig waren.

Was bleibt also, was bleibt? Das "letzte Abenteuer, das innere. Denn das ist das Positive am Ende unseres zwanzigsten Jahrhunderts", sagt Satprem, "daß wir heute auf die wahre Fragestellung kommen. Noch vor 25 Jahren waren die Menschen voller Illusionen, politischer, wirtschaftlicher, metaphysischer, daß alles noch gutgehen könnte. Jetzt gibt es diese Illusionen nicht mehr. Jetzt gibt's nur mehr die eine Frage, und die eine Art, sie zu stellen: mit unserem Atem, mit unserem Herzen, mit unserem Körper - diese Frage zu werden, diese Frage sein Und dann hat man die Antwort, die einem zusteht." Denn dies ist Satprems Urerfahrung, die ihm offensichtlich schon als Kind zuteil geworden ist. Und sein ganzes "Werk" (er haßt diesen Ausdruck) ist nichts als der immer weiter vorangetriebene Versuch, den für ihn einzig möglichen Schluß aus dieser inneren Erfahrung zu ziehen. Daß nämlich der Mensch, dem sein Leben unerträglich geworden ist (und nur er), fähig wird, sich zu verwandeln, zu einer anderen Daseinsform durchzudringen. Und da sich heute ein wachsender Teil der Menschheit in diesem Zustand befindet, glaubt er, daß wir tatsächlich an der Schwelle einer neuen Evolutionsstufe stehen, ganz wie zu der Zeit, als der erste Menschenaffe begann, auf zwei Beinen zu wandeln. Ja, er ist überzeugt, daß es bereits einem Menschen gelungen ist, die Pforte aufzubrechen und zu dieser höheren, "supramentalen" Bewußtseinsstufe zu gelangen. Dieser Mensch ist die Frau, welche man in Indien "die Mutter" nennt und in deren Nähe Satprem neunzehn Jahre seines Lebens verbracht hat, bis sie im Jahre 1973 ihre damalige Daseinsform verließ. Sie hat ihm auch den indischen Namen gegeben, unter dem man ihn heute kennt, und der nichts anderes bedeutet als "Einer, der richtig liebt".

Satprem sieht diesen Namen nicht als Mantra, als eine Art magischer Formel, die nur ihm gehört. Erst kürzlich habe ich, bei einer Abendgesellschaft seiner Pariser Freunde, einen kleinen grünen Papagei mit rotem Schnabel kennengelernt, der eben mit seiner Besitzerin aus Indien ankam, und der seinerseits auch, mit Satprems Segen, diesen Namen trägt. Satprem ist ein Mann mit Humor und Witz, ja mit einer wortgewaltigen Aggressivität. Er fühlt nicht die geringste Berufung in sich, ein Heiliger zu sein. Auch trägt er weder Bart noch Lendentuch, noch schwebt um ihn ein Duft von Räucherstäbchen. Er ist ein eher kleiner, schmächtiger, wenn auch muskulöser Franzose, "dickköpfig wie alle Bretonen", wie er von sich sagt, mit dem klarsten blauen Meeresblick, den man sich denken kann, und einem starken Mund, der sich nicht beschreiben läßt, der wohl das Geheimnis des Ostens ist: ein Lächeln über alle Abgründe hinweg. Dieses Lächeln hat auch seine Lebensgefährtin, die Inderin Sujata.

Satprems Haus steht in 2000 Meter Höhe dicht neben einer Teeplantage, an der Kante einer Hügelspitze des südindischen Nilgiris-Gebirges. Abends, nach der Hitze des Tages, auf einem da liegenden Baumstamm sitzend, hat man einen Blick über diese "Blauen Berge", der die gleiche Empfindung vermittelt, als schwebe man in einem Segelflugzeug über der Welt. Es gibt keinen Ort, wo man besser reden kann. Nicht weit von dort steht ein zweites Haus, ebenfalls aus der Kolonialzeit, für seine Mitarbeiter und Freunde, und ist mit seinem durch eine Sprechanlage verbunden. Seine Wohnräume hat Satprem mit einer japanisch anmutenden Kargheit eingerichtet. Auf dem weichen Spannteppich ein niedriger Tisch, unter den er, beim Schreiben auf dem Boden sitzend, die Beine hindurchstreckt wie ein Kind. Sonst gibt es nur noch ein paar weiße Korbstühle für Besucher. Einen Globus. Auf Regalen die gesammelten Werke von Sri Aurobindo, und an den Wänden ein einziges Bild: das der Gefährtin Aurobindos, der "Mutter". Allerdings hält sich Satprem so häufig wie er kann im Freien auf. Er ist ein Marschierer, ein Landfahrer, der in seinem Leben unzählige Tausend Kilometer zu Fuß durchlaufen hat. Er ist, wie Arthur Rimbaud, ein erstaunlicher Wanderer, ein passant considérable.

Vergleiche sind immer läppisch, doch drängt sich der mit Rimbaud geradezu auf. Der kleine Bernard - den von ihm nicht geliebten Zunamen wollen wir auslassen - ist der Sohn eines elsässischen Vaters und einer bretonischen Mutter, die heute noch lebt. Er erweist sich als "unerträgliches Kind", weil er seine verlogene bürgerliche Umwelt nicht erträgt. "Ich erstickte. Alles knirschte in mir, alles war mir zuwider." Wohl fühlt er sich nur in dem kleinen Holzboot, mit dem er so weit wie möglich aufs Meer hinaussegelt, wie das Kind Rimbaud im Geiste mit seinem "trunkenen Schiff". "In solchen Augenblicken gab es kein Ich mehr, keine Worte mehr. Ich konnte wieder atmen. Es war die Fülle." Es sind dieselben Ausdrücke, die er heute noch verwendet: ersticken knirschen wieder atmen können. Nur daß es jetzt die ganze Menschheit ist, die wieder zum Atmen kommen soll. "Denn das macht ja den einzigen Unterschied zwischen den Menschen aus. Nicht die Intelligenz, nicht diese oder jene Eigenschaft, sondern wie sehr sie ihre Not empfinden, wie stark sie nach Luft verlangen, wie verzweifelt sie das Gefühl brauchen, lebendig zu sein."

Während der deutschen Besetzung Frankreichs geht der junge Bernard in den Untergrund. Er fotografiert die Bunker des Atlantikwalls für die Widerstandsbewegung. Ein Kamerad verrät ihn, er wird von der Gestapo verhaftet. "In der Grünen Minna, Folter und Tod vor Augen, sah ich durch das Gitter die Hausfrauen mit ihren Einkaufskörben, wie sie sich ihr Brot vom Bäcker holten. Und auf einmal schien mir das dermaßen ungeheuerlich, so grotesk nichts bedeutete mehr etwas. Es war eine der entscheidenden Minuten meines Lebens. Es war wie die Zerstörung von allem, was ich bisher für Realität gehalten hatte." Er kommt ins KZ von Buchenwald, später nach Mauthausen. "Eine so völlige Vernichtung. Ich spreche nicht von den Grausamkeiten. Es war der Mensch, der zerstört wurde, mein ganzes Wesen Alles, was man zwanzig Jahre lang in mich hineingestopft hatte, ist da zerbrochen. Und daraus kam eine Art menschlicher Substanz, die immerfort fragte: Was? Was? Was? Was bleibt von einem Menschen, wenn nichts mehr da ist? Wo bist DU? Und auf einmal war es, als ob ich darüberstünde, fast lächelnd. Eine unsagbare Freude! Eine Kraft! Nichts mehr konnte mir etwas anhaben. Als Kind wollte ich immer, daß dieser Typ, der in mir ist, seine Wahrheit herausspuckt! Und nun war sie plötzlich da Es gibt überhaupt nur eine Erfahrung, eine! Dorthin gebracht zu werden, wo du wirklich bist. Und alle Plagen des Lebens sind nur dazu da, dir dabei zu helfen. Du brauchst keinen Guru dazu, du hast ihn in dir selber. Alles ist Guru."

Nach Kriegsende wird er von einem Vetter, der in der Kolonialverwaltung arbeitet, nach der südindischen Stadt Pondicherry eingeladen, damals noch eine französische Enklave. Dort hat er eine Begegnung mit Sri Aurobindo, dem ersten indischen "Weisen", der östliches und westliches Empfindungsgut in sich zu vereinigen suchte. Und sofort weiß er: "Das, was ich als Kind gespürt hatte, und später in den Lagern - hier war es, lebendig, in einem Blick. Es war, als ob ich mit einem Mal meinen Ort gefunden hätte: wo ich herkam, wo ich atmen konnte. Ich war da. Das Ganze hat vielleicht vier Sekunden gedauert. Es war wie ein tiefes Ja. Es war Das`. Nicht ein Fremder, der dich ansieht: ich selber, der mich ansieht! Und das, das wollte ich jetzt leben."

Aber noch hat er einige Umwege hinter sich zu bringen. "Sri Aurobindo hatte ja all diese Jünger um sich, diesen Ashram. Wieder eine Kirche Mauern kam für mich nicht in Frage. Ich bin abgehauen." In Paris, in der Auslage eines Reisebüros, sieht er eine Weltkarte mit eingezeichneten Seerouten. Er studiert sie, wie Rimbaud seinen Schulatlas studiert haben muß. Eine dieser roten Linien führt nach Cayenne, in Französisch-Guyana. "Ich habe mir gesagt: Gut, Cayenne. Da gehst du hin." Und er fährt hin, per Zwischendeck, in seinen Pariser Halbschuhen, und mit Sri Aurobindos Göttlichem Leben unterm Arm. "Ich fand einen Gefährten, ich ging mit ihm als Goldsucher in den Urwald, in meinen Halbschuhen. Ich war hingerissen. Hier war wirklich die Hölle. Keine Ahnung, worauf ich aus war. Aber wenn ich zum Teufel ging, dann wollte ich das auch auskosten." Er findet nur wenig Gold, dafür etwas anderes: "Ich wollte doch alles loswerden, mich selber, diese ganze Welt, die ich nicht mehr verstand. Ganz von vorne anfangen, mit der Vorgeschichte, als es noch keine Menschen gab - vor allem keine Menschen. Nach und nach hab ich meine Lektion gelernt. Ich war ja auf Freiheit versessen. Nur hab ich sie außerhalb gesucht. Ich wußte noch nicht, daß die Freiheit in deinem Bewußtsein liegt - die einzige. Denn die kann dir keiner nehmen. Jetzt dürfen sie mich nach Paris schicken, nach New York oder Mauthausen. Und ich werde denselben Blick haben wie heute, genau den gleichen. Nicht der Schatten eines Unterschieds."

Wieder ist es ein einziger Augenblick, der ihn umkrempelt: "Dieser Dschungel war stark, eine Macht! Eine solche Macht, daß ich das Fieber bekam. Am nächsten Morgen bin ich aufgewacht, und plötzlich mußte ich lachen: Wovor habe ich eigentlich Angst? Daß mich eine Schlange beißt, daß ich sterbe? Wenn ich eine Schlange anfasse, so wird es eben so sein. Und es ist mir egal! Mit diesem Moment war die Angst verschwunden. Ich war einverstanden, mit allem. Ich schaute nicht mehr, wohin ich den Fuß setzte. Ich warf mich dem Wald in die Arme. Und danach konnte mir nichts mehr passieren. Ich war ja eins mit dem Wald! Seinem Delirium, seiner brutalen Schönheit, seinem Schweigen. Ich war selber der Wald!"

Zehn, elf Monate verbringt er dort. Und dann: "Ich weiß nicht mehr bei welcher Gelegenheit, aber auf einmal war mir klar: Daß ich ein Gefangener dieses Urwalds geworden bin - ein Bürger des Urwalds - geschnappt! Ich hab sofort ein Boot genommen und bin nach Cayenne zurück. Und auf nach Brasilien!" Regelmäßig wird sich von nun an diese Erfahrung wiederholen. Im Amazonasbecken trägt man ihm eine Kakaoplantage an. Im Norden des Landes will ihn ein alter Amerikaner adoptieren und als Nachfolger in seinem Mica-Betrieb einsetzen. Sogar eine Jacht bietet man ihm als Draufgabe. "Und natürlich hatte ich diese hübsche Brasilianerin." Mit plötzlichem Entschluß entkommt er auch dieser Falle. In Afrika schließt er sich einem Reisenden an, der den Eingeborenen französische Wörterbücher verkauft. Sie trampen von Dorf zu Dorf, quer durch den Sudan, Guinea, die Elfenbeinküste, Dahomey, Nigeria. Endlich kommt er zu seinem Ziel, der Sahara, wo er sich wieder zu "verlieren" hofft wie seinerzeit auf dem offenen Meer, im Urwald. Leider beginnt gerade die Regenzeit.

"Immerhin, es gab da noch etwas: Das Göttliche Leben von Sri Aurobindo, das ich die ganze Zeit mit mir geschleppt hatte. Sollte ich nicht doch wieder hin? Ich war sehr verzweifelt, als ich hörte, daß er gestorben sei, wie man sagt. Es gab diesen Blick nicht mehr. Aber es lebte immerhin die Mutter`, seine Gefährtin. Ich sagte mir: Vielleicht findet sich doch noch ein Geheimnis dort? Denn man kann ja nicht ewig die Abenteuer aufeinanderhäufen - am Ende wird man ein Beamter des Abenteuers. Haben die dort ein Geheimnis, das man nicht immer erneuern muß, das dauert?"

Mit dreißig Jahren kehrt er nach Pondicherry zurück. "Ich weiß noch, ich bin da an den Strand gegangen, hab mich hinter einem Fischerboot versteckt und meine Zigarette geraucht. Und ich sagte mir: Mein Lieber, weißt du, daß du jetzt deine letzte Zigarette rauchst? Du wirst in einen Ashram eintreten. Wohl war mir nicht dabei. Wenn die Mutter nicht gewesen wäre Und auch mit ihr hab ich mich geschlagen, sechs Jahre lang. Immer weg vom Ashram, immer zurück. Und wieder weg."

Eines Tages bleibt er ganz fort. Er hat einen Sannyasin getroffen, einen Wandermönch, eine Art Bettelmönch. Zu Fuß zieht er mit ihm durch Ceylon, dann kommen sie wieder nach Indien zurück. Bei einem Fluß machen sie halt. Der Sannyasin läßt ihn seine Kleider ablegen. Dann wird ein Feuer entzündet. "Man wirft alles hinein, alles. Familie, Vergangenheit, seinen Verstand. Gut, Böse, Schmerz, Freude. Ich will nichts mehr davon. Ich will das Ding, das ist, immer gleich."

Satprem - denn jetzt heißt er so - erhält ein orangenes Gewand und einen Kupferkessel. Dann schickt man ihn auf Wanderschaft, mit der Eisenbahn zumeist. "Wochen verbrachte ich auf den Zügen Indiens, in dieser mörderischen Hitze, diesem Dreck überall, Ungeziefer. Übernachtung auf Bahnsteigen. Es war ein Alptraum, in dem ich nicht mehr wußte, ob es Tag oder Nacht war, ob ich schlief oder wanderte. Bis es nichts mehr in mir zu zerbrechen gab. Ich war jenseits. Ich bin dann auch zum Himalaja gegangen. Habe Yogis gekannt, bin neben ihnen gesessen. Habe meditiert, mit geschlossenen Augen. Diese ungetrübte Heiterkeit - keine Probleme mehr. Und dann? Das war immer meine Frage - und dann? Wenn man die Augen wieder öffnet, und die Welt ist noch immer die gleiche."

Satprem ist kein Freund der Gurus, besonders wenn sie von ihren Jüngern vergötzt werden. Sie verführen zur Lässigkeit - der Guru wird es schon machen. Wo doch die Arbeit immer nur von einem selbst getan werden kann. "Jeder Augenblick, jede Begegnung, jeder Zufall kann Guru sein - wenn man nur zu sehen weiß. Jedes Ding zeigt uns den Weg. Man muß eben den Mut haben, sich darauf einzulassen." Und so hat Satprem am Ende begriffen, daß auch seine Angst vor dem Ashram nur ein Hindernis war, das er überwinden mußte, um zu der zu gelangen, die ihm als einzige noch etwas zu geben hatte - seine letzte Herausforderung. Er kehrte zur Mutter zurück, "ihrem Lächeln, ihrer Ironie, dem Schwert in der Tiefe ihrer Augen".

Das erstaunliche Selbstexperiment der Mutter, dessen Zeuge Satprem neunzehn Jahre lang war, bildet den Inhalt des vorliegenden Buches. Sie hat ihm, und manchmal den Jüngern des Ashrams, ihre Erfahrungen Woche für Woche, Jahr für Jahr in Worten zu definieren versucht, die er auf Tonband aufzeichnete. Die schriftliche Übertragung der Gesamtheit dieser Aussagen ist sein Lebenswerk. Die Mutter war ja, anders als Sri Aurobindo, keine Dichterin, keine Schreiberin. Sie hatte keine "poetische Ader". Das, was Sri Aurobindo in seinen Visionen geahnt hat, das versucht sie tastend, sagt Satprem, in ihrem eigenen Körper zu verwirklichen: Denn die Verwandlung des Menschen in den "Menschen nach dem Menschen" findet ja in den Zellen des Körpers statt. Die Angaben der Mutter sind also trocken, sachlich, manchmal ironisch, immer so präzise, wie es ihr nur möglich ist. Sie sind wie klinische Beobachtungen, wie Notizen aus einem Labor. Um so mehr bewundert man Satprems Selbstdisziplin, sich über viele Jahre mit diesem strengen Geschäft abzugeben dem er auch, in Paranthesen sei es gesagt, regelmäßig mit einem seiner Romane, Essays, oder Fabeln entflieht. Immer wieder aber kehrt er zu seiner akribischen Arbeit zurück, überzeugt, daß es auf jedes einzelne Wort ankommt. Und immer wieder findet er neue Reichtümer in diesen Sätzen, die seiner verzweifelten Hoffnung - er selbst nennt sie Gewißheit - Nahrung geben, daß sich hier der Schlüssel findet, welcher das Tor aufstößt zu einer neu anhebenden Geschichte der Menschheit. Über diese Schlußfolgerung erlaube ich mir kein Urteil. Es war ja auch nur meine Absicht, den Autor vorzustellen, ihn begreiflich zu machen als jemand, der sich keineswegs abstrusen Spekulationen hingibt, sondern immer vom Erlebten und daher für alle Erlebbaren ausgeht.

Ich selbst habe Satprem im Frühjahr 1980 kennengelernt, allzu wenige Tage mit ihm verbracht und einen kurzen Fernsehfilm über ihn gedreht. Von den vielen Hunderten von Menschen, Frauen und Männern, die ich in meinem beruflichen Leben getroffen habe, ist er bestimmt der eindrucksvollste. Einer der wenigen ohne persönlichen Ehrgeiz, ohne Verstellung, ohne jede Eitelkeit. Es ist mir, als hätte ich ihn immer gesucht: ein ausgelernter Abenteurer, ein Rimbaud, der überlebt hat und der jetzt etwas weiß. Er ist der einzige, dem ich alles sagen kann, und von dem ich unverschämt erwarte, daß er alles versteht. Nein, es ist mehr als Verstehen. Es ist sogar mehr als Mitfühlen. Es ist, von seiner Seite, das absolute Zutrauen, daß auch du schaffen kannst, was er geschafft hat, und warum nicht noch weiter gehen? Wenn du Satprem triffst, sagt er dir solche Dinge wie: "Es ist nicht schlimm, Fehler zu machen, sogar entsetzliche Fehler. Es ist nur schlimm, da nicht rauszuwollen - nicht an das zu glauben, was man ist. Die einzige Sünde ist, sich von irgend etwas einmauern zu lassen." Oder er sagt: "Mit Leiden kann man überhaupt nichts gutmachen, mit Schuldgefühlen, Buße, Reue und dergleichen. Die einzige Wiedergutmachung der Dinge, die man an andern begangen hat, ist, für sich selbst die Freude zu finden. Und die kindliche Einfalt. Das macht alles wett. Man begeht die allergrößten Dummheiten, nur um zu dieser Freiheit zu gelangen." Oder er sagt: "Glück haben gibt es nicht. Man hat, was man verdient. Man hat immer das Schicksal, das man akzeptiert. Und alle Widerstände sind zu etwas da. Alle deine Irrtümer sind nützlich, weil sie dir erlauben, den Schlüssel zu dir selber zu entdecken." Er haßt es, wenn man von seinen "Ideen" spricht: "Ich habe keine Ideen. Ich bin nur einer, der eine Erfahrung atmet, der eine Erfahrung ist." Bei politischen oder anderweitigen Diskussionen winkt er ab. Er hat keinen Geschmack für Kompromisse, Durchwursteleien. Was ihn wirklich anspricht, sind innere persönliche Ereignisse - er möchte immer wissen, ob dein Herz noch schlägt, ob da noch Möglichkeiten vorhanden sind: "Brillant ist bald einer." Deswegen liebt er Kinder, weil sie noch ungehemmt lieben können. Auch seine Gefährtin, Sujata, so wie alle seine Freunde, haben dieses Offene, Zugängliche, Wandelbare der Kinder.

In seinen Briefen, die er immer mit der Hand schreibt, nennt mich Satprem seinen Bruder. Ich hoffe, er hat viele Brüder. Und ich wünsche jedem, daß er einmal solch einen Bruder findet wie ihn.


Georg Stefan Troller

Paris, im Mai 1981

Vorwort zu Das Mental der Zellen