Satprem

Der kommende Atem

Im Gespräch mit dem französischen Journalisten Towarnicki beschreibt Satprem seine verschiedenen Annäherungsversuche an den eigentlichen Kern des Lebens, "das, was vom Menschen bleibt, wenn gar nichts mehr bleibt":

Als Kind an der bretonischen Küste erlebt er die Weite des Meeres, als Widerstandskämpfer im KZ das brutale Entreißen der künstlichen kulturellen Hülle, als Goldsucher im guyanischen Dschungel den physischen Schock der Elemente, in Afrika die Versuchung, sich in der Wüste zu verlieren, als Wandermönch auf den Straßen Indiens die Anziehungskraft der Tempel und der Flucht ins Jenseits.

Doch alle diese Wege erweisen sich als Sackgassen: das dauerhafte und erfüllende Abenteuer liegt weder in waghalsigen Überlebenskämpfen noch in yogischer Entrückung und Nirvana, weder im blinden Sich-ins-Leben-Stürzen noch in der Verneinung des Lebens, sondern in der Bemühung, die wahre Bestimmung der Evolution dadurch zu erfüllen, daß die Wunder des sogenannten Geistes physisch verkörpert und im Leben realisiert werden. Die Suche nach einer nächsten Seinsweise

210 Seiten, ISBN 3-85630-031-7 bei Amazon bestellen



Aus dem Inhalt:

Kapitel 5: Die Freie Materie

Kapitel 7: Alles sein was da ist


V. Die Freie Materie

Die vedischen Rishis

T: Wie äußert sich Indiens traditionelle Spiritualität im Buddhismus und Hinduismus heute?

Es ist überall das gleiche. Man meditiert, zieht sich von Äußerlichkeiten oder konkreter Tätigkeit zurück im Versuch, eine andere Bewußtseinstiefe zu erreichen, und damit hat sich's. Es ist seit einigen Jahrtausenden dieselbe alte Geschichte.
Und was resultiert daraus?
Wo bleibt Indien heute mit seiner spirituellen Macht? Es ist eines der korruptesten Länder der Welt. Anstatt die Wahrheit zu verkörpern , wie es damals die Rishis lebten, anstatt die Wahrheit in den Körper hineinzuziehen, zog man sich in angenehme kleine Meditationen zurück. Das Leben wurde mehr oder weniger seinem Durcheinander überlassen, was zur Folge hatte, daß die Interessen und die Mechanismen die indische Materie, die die Inder so vernachlässigt hatten, in Besitz nahmen. Und jetzt muß man hier die mächtige Wahrheit wiederfinden -- hinter dieser Kruste der Lüge.

T: Kann man sagen, daß die Quelle, von der Sri Aurobindo, Mutter oder Sie schöpfen, der Lehre der Veden, der Rishis sehr nahe steht?

Ah! die Rishis sind vielleicht die einzigen, die mit diesem Bewußtsein gelebt hatten, oder jedenfalls die einzigen, die uns bekannt sind.
Sie besaßen das Wissen über die Wahrheit in der Tiefe der Materie, über das "Das": sie nannten es "Die Sonne in der Finsternis."
Das Atom ist eine Sonne, die von einer großen Finsternis verdeckt wird. Die Rishis wußten das.
Wäre aber das ganze Geheimnis von den Rishis vor fünf-, sechs-, siebentausend Jahren entdeckt und wirklich verkörpert worden, dann hätte die Evolution, unsere menschliche Evolution nicht stattgefunden! Das Geheimnis durfte nicht von nur einigen wenigen Rishis auf ihren Gipfeln entdeckt werden. Die gesamte Menschheit muß es entdecken -- muß dorthin gelangen.
Ich wiederhole: die Evolution ist keine Angelegenheit einiger weniger Privilegierter. Aber es gibt Vorboten: die Rishis waren solche.
Am Anfang einer Erfahrung, einer Zivilisation oder eines Zyklus gibt es immer welche, die ein neues Zeitalter verkünden, das sie in seiner Ganzheit überblicken, seinen Verlauf erkennen und sagen: "So wird es sein, darauf bewegt es sich zu." Der Weg muß dann aber von allen zurückgelegt werden, damit er nicht die Angelegenheit einer kleinen Person bleibt, sondern einer ganzen Spezies zu eigen wird.
Früher erging dieser Aufruf an eine privilegierte Zivilisation; heute richtet er sich nicht einmal mehr an eine einzelne Völkergruppe: denn es gibt nur noch einen einzigen menschlichen Verbund, der die Erfahrung vollziehen muß.

T: Waren die Rishis nicht die vedischen Priester, die vor Buddha lebten? ...

Ja. Die Rishis waren vor allem Krieger. Sie lebten vor ungefähr siebentausend Jahren, und auch das weiß man nicht genau. Sie lebten in einer Zeit lange vor dem Buddhismus, der aus dem fünften Jahrhundert vor Christus datiert. Auch die Upanishaden, die bereits eine ziemliche Entstellung der Veden sind, folgten erst später: man betrat damals bereits den Zyklus des Intellekts.
Die Veden enthalten das Geheimnis. Sie stammeln es, sie drücken es in einer bildhaften Sprache aus.

Es ist kaum abzuschätzen, welch phantastische Revolution Mutters und Sri Aurobindos Entdeckung bedeutet.
In unserer Welt wurde alles entwertet, alles derart aufgeblasen -- allen möglichen Kleinigkeiten gab man gigantische Proportionen --, daß nichts mehr eine Bedeutung zu haben scheint. Unsere mentale Welt stellt die ungeheuerlichste Entwertung dar.
Aber Mutters und Sri Aurobindos Entdeckung ist wirklich revolutionär. Es hat seit dem ersten Aufkommen lebender Materie nichts Wichtigeres gegeben. Ihre Entdeckung bedeutet eine Veränderung des Gesetzes der ersten lebenden Materie.
Ich weiß nicht, ob man wirklich ermessen kann, was das bedeutet ... Deshalb möchte ich gerne noch einmal auf den Vorgang des Hinabstiegs in den Körper zurückkommen.
Ich wünschte mir, daß die Menschen wirklich das praktische Geheimnis erfassen, das "Können", während die ganze Biologie uns sagt: "Man kann nicht."
Die Biologen sagen uns: "Die spezifische Verbindung der Aminosäuren bestimmt für alle Zeiten, ob wir Menschen, eine Maus oder eine Giraffe sein werden. In einer bestimmten Verbindung wird es unweigerlich Mäuse geben; in einer geringfügig anderen Verbindung werden unweigerlich Menschenproteine oder Giraffenproteine erzeugt." Da gibt es keine Ausnahmen -- außer durch Zufall, durch irgendeine Strahlung, die dann Monster ergibt.
Aber vielleicht hat wirklich ein Mensch den "Durchgang", wie die vedischen Rishis es nannten, gefunden, durch den man über dieses unabdingbar scheinende Gesetz hinausgelangt -- und zwar nicht in ein Nirvana, sondern zu einer Materie, die ist, ... was sie wirklich ist. Wir wissen noch nicht, was diese Materie ist.
Ja, wenn man die menschliche Denkweise seit dem, was wir über ihre Anfänge wissen, betrachtet, so erkennen wir eine ungeheure Herabsetzung, ja "Zersetzung" einer ursprünglichen Wahrheit oder Entdeckung, die die vedischen Rishis gefunden hatten -- vielleicht gab es vor ihnen sogar noch andere, von denen wir nichts wissen.
Wenn man einige Schriften aus der Rig-Veda anhört, die die ältesten der Menschheit bekannten sind, erkennt man, daß diese Leute wirklich ein Geheimnis besaßen, ein Geheimnis in der Materie.
Ich zitiere hier einige dieser Texte, die voller Licht sind:
"Unsterblich in den Sterblichen ist er die Energie, die unsere göttlichen Kräfte hervorbringt." Und: "Laßt uns hier siegen, schlagen wir die Schlacht der hundert Köpfe." Und in der Atharva-Veda heißt es: "Ich bin ein Sohn der Erde, der Boden ist meine Mutter." Und: "O Erde, könnte ich nur Deine Schönheit aussprechen, die Schönheit Deiner Dörfer, Deiner Wälder, Deiner Heere und Schlachten."
Das waren keine kleinen Meditierenden, die so sprachen.
Und dann sagen sie noch viel Außerordentlicheres, wenn wir verstehen, daß in ihrer Bildsprache der Fels, das heißt der Berg, der Stein, das Symbol der Materie, des ursprünglichen irdischen Gebildes ist.
Sie sagten: "Mit ihrem Mantra ..." (das Mantra ist die Schwingung des Lautes, die Schwingung des Bewußtseins) " ... mit ihrem Mantra brachen unsere Väter die befestigten und unzugänglichen Plätze auf; mit ihrem Schrei zerschmetterten sie den Fels des Berges. Sie öffneten in uns einen Weg zu dem großen Himmel ..." (in uns, das heißt in der Materie -- nicht hoch auf den Gipfeln der Meditation: in der Materie). "Sie entdeckten die Sonne, die in der Finsternis weilt ... Sie fanden den Schatz des Himmels versteckt in der geheimen Grotte, wie das Junge des Vogels. Diesen Schatz im unendlichen Fels."
Und weiter: "Der Berg ..." (das ist immer die Materie, das Symbol der Materie), "der schwangere Berg brach entzwei und gab die höchste Geburt. Da erwachten sie wahrlich und sahen völlig ..." (das heißt mit allen Augen des Körpers), "sie sahen völlig: hinter sich, um sich und überall, sie erlebten wahrlich dieselbe Ekstase, deren man sich im Himmel erfreut." Und schließlich: "Sie entdeckten den Honigbrunnen, verdeckt vom Fels."
Dieses Wissen hat überhaupt nichts mit den Upanishaden oder allem, was Indiens Tradition hervorgebracht hat, zu tun, denn die Upanishaden -- die vielleicht zweitausend Jahre später kamen und zur Grundlage und zum Evangelium von ganz Indien geworden sind --, sagen uns: "Verlasse diese Welt der Illusion" ... "Brahman ist wahr, die Welt ist Lüge." So lautet die Niralamba Upanishade.
Man sieht hier den Fall, die Entwertung, wenn ich so sagen darf. Anstatt die "Schlacht der hundert Köpfe" zu suchen, wie es die Rishis verkündeten, schloß man die Augen, kreuzte die Beine und wartete auf die Erlösung im Himmel. Ich weiß nicht im Einzelnen, was die anderen Mystiker bezeugen, aber die meisten verfolgten diesen Weg nach oben, höher, höher, höher, bis zum Verschwinden. Das Paradies ist "jenseits" und es ist nach dem Tod und die ganze alte Geschichte ... wirklich die ganze Entwertung und der Verlust des Geheimnisses des Menschen.
Nun, das ist, was Sri Aurobindo und Mutter wiederentdeckten.
Und deshalb sage ich, daß es seit dem Erscheinen einer ersten lebenden Materie auf der Erde keine phantastischere Entdeckung gegeben hat. Denn dadurch wird das eigentliche Gesetz dieser ersten lebenden Materie verändert , was
heißt, daß alle unsere biologischen Annahmen vor dieser Entdeckung zusammenbrechen.

*

Das Mental der Zellen

Mir liegt viel daran zu versuchen, in zugänglicher Sprache zu sagen, wie das möglich ist.
Die phantastische Entdeckung machte zuerst Sri Aurobindo und später Mutter, denn sie setzte seinen Weg fort und stieß auf dasselbe wie er.
Sie entdeckten etwas, das sie ein "Mental der Zellen" nannten.
Dieser Vorgang könnte wie folgt beschrieben werden:
Wir leben alle sehr weit von unserem Körper entfernt, in einem Teil unseres Wesens, den wir fürchterlich überkultiviert haben, und das ist unser intellektuelles Mental. Man kann nichts tun, ohne daß es sofort von einem Gedanken "erfaßt" und in eine kleine Schublade eingeordnet wird. Dies ist wirklich die erste der erwähnten Schichten, die uns einschließen -- die uns die Wirklichkeit der Materie verhüllen.
Was wissen die Biologen? Sie schauen durch ihr Mikroskop, aber was sagt ihnen das Mikroskop? Bedeutet es, daß sie die Zelle "erleben"? -- Sie stellen Klassifikationen auf, geben eine Beschreibung, aber womit? Was schaut durch das Mikroskop? -- Ihr Kopf schaut durch's Mikroskop und gibt uns eine Abbildung oder Projektion seines eigenen Mentals in der Zelle.
Zuerst muß nun dieses intellektuelle Mental zum Schweigen gebracht werden.
Dann stößt man auf eine zweite mentale Schicht, das Mental der Gefühle: alle Leidenschaften, Emotionen bilden eine weitere sehr beträchtliche Hülle. Es geht noch tiefer, denn mit jeder Schicht, die sich klärt, wird automatisch die nächsttiefere Schicht aufgedeckt. In unserem gewohnten Bewußtsein besteht all das in einer Art verworrenem Magma ohne Trennungen: die Gefühle nehmen sich intellektuell an, die Intelligenz dient zur Verkleidung aller möglicher Begierden. Das ganze ist ein Magma ohne Unterscheidungen. Man sagt: der "Gedanke" oder die "Gefühle", aber eigentlich besteht nichts in Reinform -- es ist ein riesiges Durcheinander.
Aber es gibt auch ein "reines" affektives Mental, auf das man trifft, wenn die intellektuelle Schicht durchdrungen wurde: alle Gefühle und Emotionen verschleiern und färben unsere Wahrnehmung des Körpers. All unsere Stimmungen verfärben ständig die Wirklichkeit dessen, was wir sein können.
Auch diese Schicht kann durchdrungen werden, indem man diese Gefühle zum Schweigen bringt, die Emotionen neutralisiert oder "klärt". Das ist wirklich, wie die Rishis sagten, eine "Schlacht der hundert Köpfe", denn kaum hat man einen abgeschlagen, wächst ein anderer nach.
Wenn die Schicht des emotiven Mentals sich beruhigt hat, trifft man auf das Mental der Empfindungen. Auch das kleidet sich in eine Sprache: es ist eine infinitesimale Schwingung. Man findet dort all die gewohnten Empfindungen, die die Substanz unseres Wesens bilden.
Am Grund dieser Empfindungen erreicht man schließlich das, was Sri Aurobindo und Mutter "das physische Mental" nannten.
Das ist wirklich so etwas wie das ursprüngliche Mental der Materie. Das heißt, eine Art unerbittliches Gedächtnis, das, sobald es eine Gewohnheit angenommen hat, sie fortwährend wiederholt. Wenn es sich an etwas gestoßen hat, erinnert es sich noch fünfzig Jahre später daran. Wenn man ihm sagt: "Oh! dies wird eine Krankheit, die drei Monate oder sechs Monate andauern wird", ist es, als bekäme die Zelle augenblicklich eine Prägung, sodaß man drei oder sechs Monate krank bleiben muß . Man muß. Und wenn man ihr sagt: "Wenn du dieses Medikament nimmst, wirst du gesund werden", dann sagt die Zelle sehr gehorsam: "Ah! Gut, ich werde dieses Medikament nehmen und gesund werden." Es ist eine Art Hypnose.
Dort berührten Mutter und Sri Aurobindo das Geheimnis. Denn diese ursprüngliche Materie -- der Zellen -- hat einen guten Willen, wie Mutter sagte: einen idiotischen guten Willen. Da gibt es keine "Gesetze": nur eine Hypnose und eine Angst.
Alles was man dieser Ur-Zelle einprägt, wird sie mit einem unermüdlichen guten Willen wiederholen.
Es ist einleuchtend, daß ihre ersten Einprägungen die Angst und die Aggression sind. Sie war von einer verschlingenden Welt umgeben, von einem wimmelnden, bedrohlichen Leben: für die ursprüngliche lebende Materie war das Leben eine enorme Erschütterung. Sie wurde in einen Kataklysmus geboren und sie lebte in Angst und zugleich mit der Sehnsucht in ihrer Tiefe, daß diese Bedrohung und dieser Schmerz aufhören mögen. Das ist ein Ruf des Todes in der Tiefe.

T: Und so entsteht das Goldfischglas.

Ja, so entsteht das Goldfischglas.
Eine Reihe von Goldfischgläsern, wenn ich so sagen darf. Das Geißeltierchen nahm seine Gewohnheit des Geißeltierchens an, der Fisch nahm seine kleine Gewohnheit des Fisch-Seins an, weil er sich in einem entsprechenden Milieu befand, und auch der Vogel nahm seine Vogel-Gewohnheit an, weil er sich in jenem anderen Milieu befand. Jede Spezies hat eine bestimmte Gewohnheit übernommen, sich zu eigen gemacht.
Jetzt sagen uns die Biologen: "Wegen dieser oder jener Anordnung der Aminosäuren geschieht das so und so."
Aber das ist nicht wahr.
Die phantastische Entdeckung ist, daß es keine physischen "Gesetze" gibt. Es gibt nur physische Gewohnheiten, die durch ein spezifisches Milieu bestimmt wurden.
Diese Gewohnheiten, diesen idiotischen guten Willen kann man lenken, wie man will. Aber mit dem Kopf können wir die Gewohnheiten der Materie offensichtlich nicht verändern -- um die Materie zu verändern, muß sie berührt werden! Wir besitzen nie die Mittel, sie zu berühren. Wir berühren immer nur unseren Kopf, unsere Gefühle, unsere Leidenschaften und Gewohnheiten.
Erst müssen all diese Schichten durchdrungen werden, um die Zelle wirklich zu berühren. Und dann kann man der Zelle einprägen, was man will.
Wenn zum Beispiel bei irgendeiner Kleinigkeit die Zelle in Panik gerät und anfängt, Schichten über Schichten von Haut zu bilden, entsteht ein Tumor.
Einzig eine Gewohnheit.
Wenn man aber die Schicht des physischen Mentals mit all seinen Befürchtungen und Ängsten und all den kleinen, ständig wiederholten Gewohnheiten und all die "Oh! das bedeutet Krebs", "Oh! das bedeutet Tod" durchdringen oder durchqueren kann, wird das erkenntlich, was Mutter und Sri Aurobindo das "Mental der Zellen" nannten. Das heißt, ein Bewußtsein der Zelle, das einer anderen Art des Reagierens gehorchen kann.

T: Einem anderen Programm?

Ja. Anstatt einem katastrophalen und tödlichen Programm kann dieses Mental der Zellen einer sonnigen Schwingung gehorchen, einer Schwingung der Freude, einer Schwingung der Liebe.
Anstelle des Todes kann sich die Zelle etwas anderes zu eigen machen -- nicht durch irgendwelche außerordentlichen Wunder, sondern einfach durch die Befreiung von all den Schichten, die sie einhüllen. Es gibt keine "Gesetze"! Es gibt keinen "Tod"! Wir wollen das Gesetz, den Tod. Aber die Zelle selbst will gar nichts. Sie will, was immer wir wollen!
Wenn es gelingt, die "Verständigung" mit der Zelle herzustellen, erlangen wir eine unvorstellbare Freiheit. Anstatt einer katastrophalen Gewohnheit gibt man ihr die Gewohnheit der Freude, des Raumes, der Weite.
Das nannten Mutter und Sri Aurobindo das "Mental der Zellen". Es ist dem Mental eines Kindes vergleichbar. Man kann ihm ein völlig anderes Leben einflößen, eine ganz andere Lebensart.
Das mag sich über lange Evolutionsperioden erstrecken, aber von dem Moment an, wo dieser zentrale Wille der Zellen etwas anderem offensteht, kann der Mensch sich neu gestalten ... wie er will.

(Schweigen)

Eigentlich hat uns Sri Aurobindo fast nichts über dieses Geheimnis gesagt. Offensichtlich nützt es nicht viel zu erklären: man muß es leben. Aber es gibt eine Stelle, an der das Geheimnis klar ausgesprochen und dargelegt wird, und zwar in einem Brief. Er sagt:

"Es gibt auch ein unscheinbares Mental, ein Mental des Körpers, ja der Zellen, der Moleküle, der Partikel. Haeckel, der deutsche Materialist, sprach von einem Willen im Atom, und angesichts der unberechenbaren individuellen Schwankungen im Verhalten der Elektronen nähert sich die Naturwissenschaft in jüngster Zeit [Sri Aurobindo bezieht sich auf Heisenberg] der Erkenntnis, daß dies keine Metapher, sondern das Abbild einer geheimen Wahrheit ist. Dieses Körper-Mental besitzt eine durchaus greifbare Wirklichkeit. Aufgrund seiner Blindheit, seines hartnäckigen und mechanischen Festhaltens an vergangenen Bewegungen, durch seine Vergeßlichkeit und Ablehnung des Neuen liegt in ihm eines der Haupthindernisse für das Eindringen der supramentalen Kraft in den Körper [das nächste Stadium, die nächste Energie] und die Transformation der Körperfunktionen. Ist das Körpermental aber einmal tatsächlich in seiner alten Form überwunden, wird es eines der wertvollsten Instrumente zur Festigung des supramentalen Lichts und Kraft in der materiellen Natur sein."
(Letters on Yoga, Cent. Ed. 1973, Bd. 22, S. 340)

"Festigen" bedeutet hier, eine neue Schwingungsweise oder Seinsweise in der Materie zu gründen.
Es ist wahrscheinlich, daß einige Wissenschaftler diese körperliche Transformation oder Programmänderung der Materie für unmöglich halten. Aber sie vergessen dabei eines: die Evolution ist etwas unverbesserlich Ketzerisches. Nichts ist unorthodoxer als die Evolution. Es ist ihre Funktion, Unmöglichkeiten zu zerschlagen: das, was für den Fisch unmöglich war, ist später dennoch möglich geworden.
Sri Aurobindo stellte sich einmal mit seinem wunderbaren Humor einen Logiker vor, zu Beginn der Evolution anwesend und die Dinge beobachtend -- diese Materie betrachtend ...
Hier die Äußerungen, die er diesem imaginären ersten Logiker in den Mund legt:
"Hätte man, als es nur die Materie und kein Leben gab, diesem Logiker gesagt, daß bald Leben auf der Erde entstehen würde - in einem materiellen Körper -, hätte er ausgerufen: 'Das ist unmöglich! Das kann nie geschehen! Was?? In dieser Suppe von Elektronen, Gasen, chemischen Elementen, in diesem Haufen von Lehm, Steinen und leblosen Metallen? Wie wollen Sie das Leben dorthinein bringen? Werden die Metalle laufen lernen?' " (Aus einem unveröffentlichten Brief)

Werden die Zellen ihr altes Programm verlassen? Das ist Mutters und Sri Aurobindos herausfordernde Frage.
Es ist die Frage unserer Zeit.
Es geht nicht mehr um Philosophie, es geht nicht mehr um kulturgeschichtliche Epochen, die einander ablösen ...
Es geht wirklich um eine Revolution, die in der Materie zu vollziehen ist.

*

Das Mantra

T: Was können jene tun, die nicht nach Indien gereist sind, die Sri Aurobindo nicht gelesen haben, die Mutter nicht kannten, wenn dieser Weg sie konkret interessiert?

Man kann bewußt etwas tun. Aber man muß auch wissen, daß die Sache geschieht , ob wir wollen oder nicht. Das ist auch wichtig.
Ob die Menschen sich dessen bewußt sind oder nicht, die gesamte menschliche Spezies ist heute dabei, ein neues evolutionäres Stadium zu beginnen. Das betrifft und prägt jetzt jedes Bewußtsein, jede Nation, jede Vereinigung: Die alten Strukturen werden zerbrochen, zerbrochen, zerbrochen.
Manche möchten aber nicht nur verstehen, sondern ihrem Leben aktiv einen wahren Sinn geben und vielleicht an dieser ungeheuren Revolution "teilnehmen", die sich überall vollziehen kann ... und muß.
Die Evolution ist ja keine "hinduistische" Privatsache! Sie muß überall durchführbar sein, dem Vorgang muß überall bewußt gefolgt werden können, nicht nur unter bevorzugten Bedingungen, sondern im alltäglichen Leben.
Und da gibt es etwas sehr Einfaches zu tun. Was tun wir, während wir über die Straße gehen? Was tun wir, während wir im Aufzug fahren? Was läuft in diesem menschlichen Kopf ab? Ein dummes, zermürbendes Geratter, das unablässig wiederholt: "Ich muß dies tun" und "jenes darf ich nicht tun" und "vielleicht wird dies geschehen" und "vielleicht wird jenes nicht geschehen ...". Eine fürchterliche Mechanik, die man ganz natürlich atmet, die aber absolut fürchterlich ist: sie wiederholt dauernd das eine und das andere und hunderttausend Dinge.
Nun, dort kann man das Geheimnis erwischen, dort kann man zu arbeiten beginnen. Denn die nutzlose Zeit, die von diesem Dröhnen eingenommen wird, während man über die Straße geht, den Aufzug nimmt oder die Treppe erklimmt, könnte mit einer anderen Schwingung ausgefüllt werden, die der Anfang einer sonnigen, leuchtenden, freudigen Schwingung wäre.
Dort kann Indien uns helfen. Und so fand Mutter auch das praktische Mittel: sie bediente sich eines Mantras.
Was ist ein Mantra? Ein Mantra ist ein Klang.
Alles hat einen Klang. Ich bin sicher, daß die Naturwissenschaftler eines Tages den Klang eines Steines entdecken werden.
Alles hat eine Schwingung. Eine Pflanze hat eine Schwingung. Jedes Ding besitzt eine Schwingung, die besondere Schwingung seiner Art. Das Feuer hat eine Schwingung. Im menschlichen Bereich hat die Freude eine bestimmte Schwingungsbeschaffenheit und die Wut eine ganz andere. Man begreift den Unterschied in der Schwingung (auch ohne Worte) zwischen einem Zustand der Freude und einem Zustand des Schmerzes oder der Wut. Man begreift auch (ohne Worte) den Unterschied der Schwingung, der zwischen einem Menschen mit einer gewissen Erhabenheit und einem anderen Menschen voller Begierden besteht. Die "Schwingungsfelder" sind jeweils ganz anders beschaffen.
In Indien wurde eine Wissenschaft dieser Klänge oder Schwingungen entwickelt.
Die Kenntnis des Klangs einer Sache erlaubt ihre bewußte Reproduktion.
Den Klang von etwas ertönen zu lassen, bedeutet, es in gewisser Weise zu erschaffen oder nachzubilden.
Es gibt eine ganze Wissenschaft, die mittels der entsprechenden Klänge Zustände oder Schwingungen der Freude, der Liebe hervorrufen kann. Man hat sich dessen auch zu schrecklichen magischen Zwecken bedient, um Leid zuzufügen, um Unfälle hervorzurufen, um alle möglichen zerstörerischen und negativen Schwingungen zu entsenden.
Aber es gibt Klänge der Freude, des Lichtes, der Wahrheit, der Liebe.
Dies ist die Bedeutung des Mantras.
Ein Mantra, das heißt ein Ton, zwei, drei Töne, kann zuerst einmal im Kopf wiederholt werden, anstatt sich dauernd von diesem schmerzlichen Durcheinander ergreifen zu lassen -- es gibt einem Kopfschmerzen, nicht wahr, wir leben in einem ständigen Wespennest, und man wiederholt nicht nur seine defätistischen und katastrophalen kleinen Gedanken, sondern "zieht" die Katastrophen damit auf sich, zieht die Krankheiten an -- unsere Gedanken sind Magnete. Und wenn man sich, anstatt all diese Katastrophen anzuziehen, jedesmal ertappt, berichtigt und stattdessen eine Schwingung der Freude oder des Wohlbefindens "anzieht"? ...
Wir können es uns angewöhnen, dieses Mantra, diese Töne zu wiederholen, während wir die Treppe hinaufgehen, während wir die Straße überqueren -- in jedem Augenblick können wir es wiederholen. Da die Materie sehr "aufnahmefähig" ist, kann man (zuerst im Kopf) anfangen, sich eine andere Art von Mechanik zu eigen zu machen. Unser intellektuelles Mental, das in seiner Stofflichkeit und Schwerfälligkeit sehr idiotisch ist, wird ganz gelassen das Mantra wiederholen, anstatt sein gewohntes "ich habe die Haustür nicht abgeschlossen", "ich habe meinen Schal vergessen" und "ich werde meinen Termin verpassen".
Nun entdeckt man, daß die Materie etwas Wunderbares ist! Etwas, das alle Einprägungen aufnehmen kann und anstatt all ihrer gewohnten Dummheiten ebensogut die Freude und die Schönheit wiederholt.
Dieser Ton, diese Schwingung dringt von Stufe zu Stufe in die Materie ein: vom intellektuellen Mental zum Herz, dann noch tiefer ... und sie beginnt den Körper zu füllen. Nach und nach ist es, als ändere das Wesen -- der Körper -- seine Dichte. Als wäre man von einer anderen Schwingung erfüllt.
Und all die alten Gewohnheiten fallen weg. Es ist vergeblich, gegen sie anzukämpfen, denn das ist ohne Ende: man schlägt einen üblen Gedanken oder eine miese Idee nieder, und dreißig Sekunden später ist sie wieder da. Sobald die Materie hingegen ihre wahre Schwingung aufgegriffen hat, ist das wie eine Schwingung des freien Raumes, der Freude, wie das Sprudeln des Meeres. Wenn eine kleine Welle auf den Strand läuft, sprudelt sie, sie hat eine Schwingung -- die Materie nimmt das sehr freudig auf. Schließlich tut sie es automatisch. Und man ertappt sich selbst im Schlaf dabei (mir ist das passiert; anderen vielleicht auch), das Mantra zu wiederholen.
Nun ist verständlich, wie das Gesetz des sogenannten Todes, das Gesetz des Unfalls -- all jene Gesetze -- durch diese besondere Schwingung aufgelöst werden, denn sie haben keine unabhängige Existenz in den Zellen. Die Zelle wiederholt alles, was man will. Wir sind es, die durch unsere Gewohnheiten, durch unser Gefühl des Unabwendbaren, des Möglichen und des Unmöglichen ständig die Krankheiten, die Unfälle, den Tod, den Zerfall und die Abnutzung anziehen.
Eine vollkommen andere Art der Schwingung kann in dieser Materie zu "pochen" beginnen. Das kann mitten auf der Straße geschehen -- ich habe es überall erlebt! Unter allen möglichen Umständen können wir uns dieser neuen Schwingung zuwenden, in den idiotischsten, den unmöglichsten Umständen, dort wo es am Erstickendsten zu sein scheint ... überall.

*

Mutters Abschied

T: Aber bis jetzt hat, soweit wir wissen, noch nie jemand den Tod besiegt. Auch Mutter, die auf Sri Aurobindos Pfad den Kampf gegen den Tod aufgenommen hatte, ist selber gestorben.

Erstens weiß ich nicht, ob es einem einzelnen möglich ist, individuell, für sich alleine das Gesetz des Todes zu überwinden.
Eine privilegierte Einzelperson hat keinen Sinn. Dieses Geschehen muß sich im gesamten Erdbewußtsein vollziehen.
Aber man kann unter Umständen als einzelner dem Gesetz des Todes entkommen. Da gelangt man zur Hauptschwierigkeit. Was bedeutet es, wenn sich die Zelle klärt und von all ihren Katastrophen-Ängsten und täglichen Gewohnheiten gereinigt wird?
Man muß verstehen, daß die Materie, sobald sie von ihren katastrophalen Gewohnheiten befreit worden ist, augenblicklich zur Gesamt-Materie wird: es gibt keine Mauern, keine Trennungen. Die individuelle Energie, die in ein Goldfischglas gesperrt wurde, ist keine kleine, sich im Kreise drehende Energie mehr: sie wird zu einer alles umfassenden Energie -- jene, die die Universen bewegt.
Die Menschen, die in Mutters Nähe gelebt haben, wissen ein ganz klein wenig, was das bedeutet.
Sie sagte mir soviele Male: "Ich muß mich in Schleier hüllen! Ich muß mich in Schleier hüllen, sonst ist es unerträglich."
Diese Energie ist unerträglich. Sie ist so immens "rein" und "sonnenartig", daß all unsere kleinen defätistischen Regungen -- all das, was die Substanz unseres Wesens ausmacht -- reagiert, wie wenn plötzlich das Licht eines Scheinwerfers in ein Rattenloch fiele. Dort drin schlägt alles wild um sich. Wenn man sich in Mutters Nähe befand, begannen die so finsteren Dinge in der Tiefe der menschlichen Substanz zu ersticken und zu zappeln, weil sie fühlten, daß man ihrem Lauf ein Ende bereiten wollte.
Es reicht nicht aus, die neue Gattung zu werden.
Es ist auch erforderlich, daß die alte Gattung einen nicht umbringt.
Hiermit berühren wir etwas sehr Schmerzhaftes, und etwas, das wirklich den Kern des menschlichen Elends ausmacht.
Denn die Erde, diese ganze Materie widersetzt sich der Freude. Sie widersetzt sich dem freien Raum, der Weite. Sie hängt sehr an ihrem Knirschen. Sie hängt an ihren engen Ideen, ihren kleinen Mächten, ihren schmalen Seinsweisen -- und diese schmalen Seinsweisen können durchaus "yogisch" sein! Es ist schwer, im Bewußtsein der Leute durchzusetzen, daß es nicht darum geht, mit gekreuzten Beinen vor einem Bild Weihrauch zu verbrennen.
Die Leute um Mutter sagten immer häufiger: "Sie wird verrückt. Sie ist alt. Sie ist 92, 93, 94, und es dauert lange. Das hört ja nie auf."
Es ist sehr traurig, das zu erzählen. Sie waren ihrer überdrüssig.
Sie hatten genug von ihr.
Ich konnte sie nur deshalb so gut verstehen, weil ich selber so sehr am Ende aller nur möglichen Erfahrungen stand seit dem Tag, wo ich im KZ gerufen hatte, überall gerufen hatte -- im Wald, auf den Straßen Indiens. Ich war wirklich am Ende meines Menschseins, mit einem so intensiven Ruf nach "etwas anderem" -- nach der Weite und dem Licht und der Schönheit. Wegen meines eigenen, so intensiven Verlangens konnte ich diese Macht von Licht "aushalten". Und selbst wenn ich diese Energie wie ein Zermalmen meines ganzes Körpers empfand, sagte ich: "Aber JA, JA! und WEITER, und WEITER! und selbst wenn ich dabei draufgehe ... lieber so! nicht auf die medizinische Art."
Und dann sah ich Mutter; sie war also 92, 93, 94 Jahre alt, und war so allein, von soviel Unverständnis umgeben. Sie kamen zu ihr und bestürmten sie mit den kleinsten und engstirnigsten Problemen: "Soll ich mein Auto zu diesem Preis verkaufen?", "Soll ich jene Frau heiraten?", "Soll ich ... soll ich ...?" Sie überfielen Mutter mit Bergen von Briefen und Haufen von Fragen; oder auch mit bösem Willen: "Ich bin es satt! Ich will weg von hier!"
Es ist sehr schwer, die Wahrheit zu ertragen -- die lebende Wahrheit, die lebende Energie.
Ich sah, wie Mutter in ihren Zellen, ihrem Körper, der so geklärt, so hell, so transparent geworden war, ständig, ununterbrochen die sie umgebende Negation und Ablehnung oder selbst die Revolte absorbierte. Jedesmal war es, als überfiel eine menschliche Krankheit ihre Zellen -- vielleicht war es überhaupt die menschliche Krankheit. Und jedesmal mußte sie ihren Körper erneut von all diesen Suggestionen und all diesen bösen Willen reinigen ...
Wer glaubte an ihre Bemühungen?
Wer sagte: "Ja, sie wird den Durchgang finden. Sie wird durchkommen. "
Sie sagte mir am Ende: "Ich habe niemanden hier."
Dieses Wesen, das so sehr suchte für die Erde, so sehr die Liebe, die Schönheit für die Erde wollte, mußte sagen: "Ich habe niemanden hier." Es war so ergreifend und herzzerreißend zu sehen, wie sie mehr und mehr vom Schmerz der menschlichen Ablehnung und des Unverständnisses erdrückt wurde.
Da liebte ich Mutter wirklich.
Sie war groß, sie war heroisch.
Und dann versperrten sie mir eines Tages die Tür zu ihr.

T: Wer?

Ihre Schüler.
Ich weiß nicht, weshalb. Ich kann deren Welt nicht verstehen; ihre Art zu sein begreife ich nicht. Ich verstand die Eifersüchte nicht.
Als sie mir die Tür versperrten, gab es überhaupt niemanden mehr, dem sie sich mitteilen konnte.
Warum sollte sie unsterblich sein? Warum sollte sie strahlend sein? Für sich alleine?
Sie liebte die Erde so sehr und hätte ihr so gerne ihr Geheimnis der Freude geben wollen -- ihr Geheimnis der Freude in der Materie. Ihr Geheimnis der Weite, des Verständnisses mit allem und allen.
Sie ist zwar gegangen, aber sie ist nicht weit.
Ich fühle sie. Sie lächelt mir zu. Sie trägt mich.
Und das ist nicht nur für mich so. Ich spüre deutlich, daß für jeden, der in kindlicher Weise in seinem Herzen ruft -- und das kann irgendwo sein, in jeder beliebigen Sprache ... --, "etwas" bereit ist, einem zu helfen und Berge zu bewegen.
Wenn wir nur den Mut zur Freude haben.

T: Was sagte Mutter zu Ihnen, bevor sie starb?

Man hat mir sechs Monate vor ihrem Tod die Tür versperrt.

T: Aber sie hatte Ihnen doch gesagt: "Die anderen werden mich für tot halten ..."

Ah, ja.

T: Könnten Sie den ganzen Satz wiederholen?

"Sie werden mich für tot halten. Aber du weißt, daß es etwas anderes ist, du wirst es ihnen sagen. Ich würde es ihnen ja selber sagen, aber sie werden mir nicht glauben."
Das hatte sie mir gesagt: "Sie werden mir nicht glauben."
Sie glaubten nur, daß Mutter alt war.

T: Warum lehnten sich die Schüler in den letzten Jahren so gegen Mutter auf?

Die Auflehnung war nicht offenkundig. Es war ein dumpfes Grollen in vielen, besonders in ihrer engeren Umgebung.
Nun, das ist sehr leicht zu verstehen.
Für jeden stellte sie das Hindernis zur Verwirklichung seiner kleinen Begierde, seines kleinen Egos, seiner kleinen Macht, seines kleinen Prestiges dar. Jeder empfand sie als dessen Hindernis.
Nach ihrem Weggehen wurde das alles sehr offenkundig. Kleine Wesen auf der Suche nach ihrer kleinen Macht, ihrem Prestige, in makelloses Weiß gekleidet, versuchten sogar Mutters Agenda mit den Aufzeichnungen von allen Gesprächen, die sie mit mir führte, zu beschlagnahmen, so sehr fürchteten sie, was Mutter mir wohl erzählt hatte. Mit allen Mitteln versuchten sie das.
Aber was bringt es, diese negativen Dinge zu erzählen?
Mögen sie alle ihre Wege gehen, das ist unbedeutend.
Es gab früher auch sicherlich mehr als einen Orang-Utan oder alten Primaten, der gegen den Menschen protestierte. Das hat den Menschen nicht am Kommen gehindert.
Genauso ist das, was Mutter unter so vielen Schmerzen auf der Erde gesät hat, unumkehrbar.
Dieses Gewimmel, das man bei den Schülern beobachten konnte (und das man auch jetzt noch sieht), das wimmelt überall auf der Welt! Die kleinen Ratten verlassen ihre Löcher, die kleinen Schaben regen sich auf, die Grausamkeiten, die schrecklichen Dinge kommen überall zum Vorschein, als hätte man die Kloaken geöffnet.
Und warum? Weil wirklich ein blendender Scheinwerfer darauf gerichtet wird und alles aus den Winkeln seiner Dreckslöcher treibt, damit es verschwindet. Damit etwas anderes aus der Tiefe dieser Materie, hinter den Rattenlöchern oder Heiligennischen, hervorkommt, damit hinter all dem eine neue Luft und eine neue Möglichkeit erfahrbar wird.
Das ist das Phänomen, das sich jetzt vollzieht -- ganz unabhängig von unserem Willen.
Warum sollte es aber nicht mit einem kleinen Teil unseres eigenen Atems geschehen?
Als erstes Wesen in der Evolution könnten die Menschen bewußt zu ihrer eigenen Transformation beitragen.
Es gibt ein Mittel: Mutter, ihr Körper, wiederholte die ganze Zeit eine selbe Schwingung, dieses selbe Mantra. Alle Menschen können es wiederholen.

OM NAMO BHAGAVATÉ
OM NAMO BHAGAVATÉ
OM NAMO BHAGAVATÉ
OM NAMO BHAGAVATÉ
Om Namo Bhagavaté
Om Namo Bhagavaté
Om Namo Bhagavaté
Om Namo Bhagavaté
. . . . .
. . . . .


T: Was heißt das übersetzt?

Was ruft das Universum, der Vogel, die Pflanze? Was rufen sie?
Was ruft die ganze Erde? Was ruft ein Baum?
Sie rufen die Freude, die Liebe, das "Höchste", was ist.
So lautet dieses Mantra.
Es ist das "Ich grüße den Höchsten Herrn ... oder die Höchste Freude oder die Höchste Schönheit. Das, was meine Lungen erfüllt. Das, was mich erfüllt, was die Erde erfüllt: was sie wachsen läßt."
Das aber sind Worte unseres Intellekts. Die Schwingung aber, dieser Ton muß in den Körper hineingewebt werden.

T: Ist es wirklich das Wort "Höchster Herr"?
"Herr" ist unsere westliche Übersetzung.
"Bhagavaté" bedeutet ... [lachend] was? Wie kann ich es sagen?
Es ist der Atem von allem, der wahre Atem -- jener, der uns fehlt.

T: Das ist nicht das gleiche wie "Herr", der die Spitze einer hierarchischen Ordnung und die Idee eines Gottes als Schöpfer und treibender Kraft darstellt.

Oh, das ist noch unsere kindische Anschauungsweise.
Was gibt es auf der Welt?
Es gibt nur EINES. Und das ist alles, was ist: es ist wir, du, der Teppich, der Stuhl, die Atome, die Galaxien -- es ist ... es ist alles, was ist.

T: Dann könnte man "Bhagavaté" mit "Höchstes Wesen" oder "Das Wesen" übersetzen?

Ja, das ist es: "Ich grüße das Höchste Wesen."
Aber kein Höchstes irgendwo in weiter Ferne! -- Es ist hier! Es ist anwesend!
Es pocht in unserer Brust.
Es ist in jedem Ding, in allem, was ist. Es ist in dem armen Kerl, der auf dem Boden seines Lochs sitzt. Es ist in allem, was ist.
Das Mantra ist ein Atem.
Wir können in Worten nur intellektuelle und mentale Übersetzungen darüber legen. Es ist jedoch gar nicht nötig, es zu übersetzen -- es muß schwingen !
Diese Schwingung ist voller Sonne!
Ich habe nie etwas Einfacheres gesehen, als diese Worte der vedischen Rishis, die vom "Honigbrunnen unter dem Fels" sprachen. Dieser Honigbrunnen ist in der Tiefe von allem zugegen.
Eigentlich sind wir dieser Honig, dieser Honigbrunnen, der von so vielen Gewohnheiten verdeckt ist: die Gewohnheiten des Fisches, des Menschen, des Gelehrten, des Biologen oder des Christen.
Aber unter all diesen Gewohnheiten liegt etwas, das voller Honig und voller Sonne ist und es ist das, was wir sind.
Man kann natürlich sagen: "der Höchste" oder vielleicht "das Höchste", aber das sind ärmliche mentale Übersetzungen.
Wenn Mutter dieses "Bhagavaté" invokiert oder grüßt, dann wendet sie sich an keinen Gott, sondern an das eigentliche Wesen der Welt, an ihr wahres Wesen. Jenes, das ein Kind sehr gut kennt -- ohne Mysterien und Theologie. "Ich grüße diesen Honigbrunnen."

T: Das ist aber immer noch keine Übersetzung. Bitte geben Sie uns eine.

Ich habe auf fünf oder sechs Arten versucht, eine Übersetzung zu geben, aber sie sind alle ärmlich! Die Essenz von Mutters Mantra ist dies: der Gruß an das, was man ist -- das, wonach man sich sehnt.
Wonach sehnt man sich? Nach dem, was man ist! Wenn man nicht das wäre, würde man sich nicht danach sehnen. Wenn die Nacht eine reine Nacht wäre, wie könnte sie sich nach der Sonne sehnen, wenn sie diese Sonne nicht bereits enthielte?

T: Es fehlt uns noch eine Übersetzung!

Die erste mögliche Übersetzung ist die mentale. Sie lautet wörtlich: "Ich grüße das, was das Höchste ist." Aber dieses "Höchste" ist kein himmlisches Höchstes -- das wäre das genaue Gegenteil des Pfades, dem Mutter oder die Rishis oder Sri Aurobindo folgten.
Es ist das, was die Materie wirklich ist.
Man hat es in den Höhen gesucht und nannte es "Geist". Am Ende aber entdeckt man, daß das, was hoch oben gesucht wurde, mitten in der Materie liegt -- daß es das eigentliche Wesen der Materie ist.
Es ist die Freude dessen, was ist.
Wie wäre all das möglich, wenn nicht eine Freude auf dessen Grund läge?
Also heißt es wirklich "die Höchste Freude".
"Ich grüße die Höchste Freude."
[Wörtlich: Bhagavaté = das, was voll ist, was die Fülle besitzt. Traditionsgemäß sind die sechs Eigenschaften von Bhaga: Reichtum, Heldentum, Großmut, Harmonie, Wissen, Losgelöstheit.]


VII. ALLES SEIN, WAS DA IST

Die technische Zivilisation: ein Kind wird sie zerstören

T: Satprem, die Welt der Wissenschaft und der Technik ist heutzutage fest in der Welt verwurzelt und eingebettet: im Osten wie im Westen, im Norden wie im Süden. Sie stellt eine beträchtliche Macht dar. Wie kann man ...

Oh! ein Sandkorn. Ein Sandkorn und die Maschinerie kommt zum Stillstand. Ja. Verzeihen Sie, ich habe Sie unterbrochen ...

T: ... Wie ist es vorstellbar, daß eine spirituelle Erfahrung diesen ungeheuren Aufbau erschüttern, zerstören oder verwandeln kann?

(kurzes Schweigen)

Es ist ein riesiges Monster, aber ... es ist zerbrechlich.
Bereits 1910 oder 1912 betrachtete Sri Aurobindo diese westliche Zivilisation und schrieb einen recht fürchterlichen Satz. Ich erinnere mich, er sagte folgendes (in einem seiner Aphorismen):

"Europa rühmt sich seiner praktischen und wissenschaftlichen Organisation und Fertigkeit. Ich warte, bis die Organisation vollkommen ist -- dann wird ein Kind sie zerstören."


Er hatte gesehen, daß ein Sandkorn genügt, um diese enorme Maschinerie zu erschüttern.
1973 sahen wir es auch an einem ganz konkreten Beispiel: es genügte, den Erdölhahn abzudrehen, damit alles aus den Gleisen geriet.
Diese ungeheure Maschinerie gleicht einem unserer Raumschiffe. Wir befinden uns in der Tat in einer riesigen wissenschaftlichen "Kapsel"; lockert sich auch nur eine kleine Schraube, wird die ganze Kapsel plötzlich erstickend und alles kommt zum Stillstand.
Wer weiß, ob die Geschehnisse von 1973 -- dem ersten Erdölembargo -- sich nicht in viel drastischeren Maßstäben wiederholen werden? Oder auch irgendetwas sehr Unerwartetes, an das niemand dachte, und dann kommt diese enorme Maschinerie plötzlich zum Stillstand.
Denn an dem Tag, an dem wir sie nicht mehr füttern können, geht es von Timbuktu bis Hong Kong und Washington: alles bleibt stehen.
Dann steht der Mensch ohne Maschinerie da ... ja, so wie er vor 5000 Jahren war!
Wenn es zu einem solchen Zusammenbruch kommt, dann wird der Mensch auf einmal wirklich die Augen aufreißen ... und einen ziemlich schrecklichen Blick auf sich selbst und seinen Zustand tun. Er wird abrupt wie zu Beginn aller Zivilisationen dastehen, aber mit dem inneren Bewußtsein des durchlaufenen Zyklus. Und er wird sich sagen: "Was nun?"
Wo wird er seinen Fortschritt sehen?
Vielleicht gelangt er dann zu dieser "reinen" Sekunde, in der Tiefe seiner selbst, wo man etwas SEIN muß. Keine Summe von Maschinerie + Familie + Philosophie + Religion, sondern das eigene wahre menschliche Pochen.
Wenn eine solche Sekunde die Menschheit überkommt,
weil ihre Maschinerie zusammenbricht, dann kann wirklich eine andere Dimension das Herz des Menschen ergreifen.

*

Nach Marx und Mao, was?

T: Die Wissenschaftler, die man über Indiens Schwierigkeiten befragt, sowohl in Indien als auch im Westen, sind alle zutiefst besorgt über das Problem der Überbevölkerung. Halten Sie es auch für ein ernsthaftes Problem?

Oh ja!

T: J.R.D. Tata weist darauf hin, daß der Bevölkerungszuwachs zwischen 1946 und 1967 an die 300 Millionen Einwohner mehr ausmachte.

Ja.

T: Und es scheint unabwendbar, daß Indiens Bevölkerung von 1980 bis zum Jahr 2000 oder 2025 um weitere 300 Millionen Einwohner zunehmen wird.

Ja. Es ist ein unlösbares Problem. Unlösbar, weil niemand in Indien den Mut hat, das Notwendige zu tun. Frau Gandhi hatte vor zwei oder drei Jahren versucht, etwas gegen die Überbevölkerung zu unternehmen. Und das wurde von ihren Gegnern auf schändliche Weise ausgenutzt, um sie der Zwangssterilisation der Frauen und Männer zu beschuldigen -- man begegnete ihren Bemühungen, die wahre Gefahr, die Indien bedroht, zu bekämpfen, mit einer schrecklichen politischen Propaganda. Das hat sie so sehr verbrannt, daß ich nicht glaube, daß sie den Mut haben wird, die wahre Bemühung wieder aufzunehmen.
Und dennoch liegt hier Indiens Problem. Es gibt kein zweites. Es ist Indiens einziges Problem. Aber niemand will es sehen.
Folglich ist es unlösbar.
Das heißt, wahrscheinlich wird die Natur wie immer eines Tages sagen: "Das reicht." Sie schickt ein kleines Erdbeben oder ich weiß nicht was, und bringt auf ihre Art Ordnung in dieses Gewimmel. Aber es muß etwas geschehen, um dem ein Ende zu setzen.
Und nicht nur in Indien. Da ist auch China: tausend Millionen Menschen.

T: Worin liegen die Hindernisse? Nach meinem Gespräch mit J.R.D. Tata, Pionier der indischen Industrie, ist eines davon der sozialistische Charakter der indischen Wirtschaftspolitik seit Nehru, der eine enorme Bürokratie, eine riesige Administration mit sich bringt ...

Ah! ja. Eine Krake.

T: Es herrscht jetzt eine Art Besorgnis oder Furcht oder Beklemmung. Für Tata drückt sie sich in zwei Formen aus: zum einen der unaufhaltsame Strom der Überbevölkerung. Er sagt, jede Bemühung wird sofort davon verschlungen ...

Ja, da hat er recht.

T: Zum anderen befürchtet er, daß die Weltgeschehnisse -- die Krisen, die auf uns zukommen -- eines Tages Rußland dazu bewegen, sich der industriellen Reichtümer Europas zu bemächtigen. Nicht weil Rußland bösartig wäre, sondern weil Europa für einen guten Schachspieler ein Feld ist, das man nehmen muß, um die Vereinigten Staaten zu neutralisieren.

Das glaube ich nicht.
Mutter sah es und Sri Aurobindo sah es, und was sie sahen liegt hinter den oberflächlichen Erscheinungen: die Nationen werden von Kräften bewegt. Nicht von Millionen von Dollars oder Panzern oder ... Das ist nicht so. Dahinter stehen Kräfte. Und das sah Mutter und das sah Sri Aurobindo.

T: Ja.

Und sie sahen die Gefahr in China.
Und diese Gefahr sehe ich auch.

T: Sie spüren Sie auch.

Oh, ja!
Rußland steht am Ende seines kommunistischen Experiments. Wie Mutter sagte: "Sie stehen am Ende ihrer Erfahrung, und sie wissen nicht, wie sie aus ihr herauskommen sollen." Sie sind reif für etwas anderes.
Wir sagen alle "Rußland, Rußland", schreien "Wolf", und die Chinesen tun was sie können, um diese anti-russischen Gefühle zu unterstützen. Wenn die Russen sich nun in die Enge getrieben, von allen Seiten umzingelt fühlen, kann man sie zu Verzweiflungsakten zwingen. Aber eigentlich würden sie gerne einen Ausweg aus ihrer kommunistischen Sackgasse finden. Sie stehen am Ende ihrer Kräfte.

T: Über dieses Thema kann man natürlich lange diskutieren.

Die wahre Frage ist: "Nach Marx und Mao, was? ..." Sri Aurobindo gibt eine gewisse Antwort. Eine Antwort in der Materie. Ein wahrer Materialismus. Vielleicht ein "göttlicher Materialismus"?

*


J.R.D. Tata und Auroville
Die menschliche Natur ändern

T: Und wie begründen Sie Tatas Hilfe für Auroville?

Ah! Das ist etwas anderes. Er hat Auroville sehr geholfen. Auroville wurde von einer korrupten Polizei bedrängt, die von den "Eigentümern von Auroville" bezahlt wurde.

T: Grundeigentümer?

Ja ...
Sie waren nicht die "Eigentümer": Mutter hatte eine gewisse Anzahl Leute beauftragt (man braucht Geld, um so eine Stadt zu gründen), sie hatte ein, zwei ihrer Schüler gebeten, sich besonders darum zu kümmern, rechts und links die Mittel aufzutreiben, um zur Entstehung oder Schöpfung von Auroville beizutragen.
Und jene, die sie beauftragt hatte, die Mittel für Aurovilles Entwicklung zu beschaffen, erklärten sich als "Eigentümer von Auroville"! Das war sehr einfach und der Streich war getan -- Mutter ist gegangen, jetzt sind wir die Eigentümer.
Und diese "Eigentümer" versuchten alles, um ihre Autorität über Auroville zu bestätigen. Und bei der Korruption, die leider in Indien herrscht, haben sie überall bestochen: die Polizei, die Dorfbewohner, die Beamten an allen Stellen, um jene Leute aus Auroville zu verstoßen oder in Bedrängnis zu bringen, die in diesem Betrug und spirituellen Handel nicht mitmachen wollten. Sie haben alle Mittel versucht: sie ließen Aurovillianer verhaften, fürchterliche Dinge geschahen.

T: Gab es auch Gewalttätigkeiten?

Und ob es Gewalttätigkeiten gab!
Aber da war Herr Tata seine sehr große Hilfe für uns ... Verstehen Sie, Auroville mußte vor diesen Söldnern beschützt werden. Und Herr Tata war bereit, seinen Namen einzusetzen -- dem seinen Namen zu leihen -- und sagte: "Ich bürge für Auroville." In dem Augenblick, wo jemand wie Herr Tata sich verbürgt, setzt das immerhin vielen Schlichen ein Ende; es hindert viele kleine Kraken daran, ihre Missetaten auszuüben. Auf diese Weise war er eine sehr große Hilfe.
Und er hat sich nicht nur für Auroville verbürgt, sondern wir setzten uns mit einigen anderen zusammen und gründeten eine Art Verein namens Auromitra , das bedeutet "Die Freunde Aurovilles", um Auroville vor diesen Schurken zu beschützen.

T: Und warum tat er all das?

Aber aus Liebe! Einfach, weil er an diese Jungen glaubte ... Diese lose Gruppe von einigen Hundert Menschen, die dort sind: Deutsche, Italiener, Kanadier, Franzosen -- er hatte sie gesehen. Er hatte den Dynamismus, die Aufrichtigkeit gesehen. Selbst wenn sie sonderbar oder ungewöhnlich schienen, waren sie dennoch gesunden Geistes, wahrhaft, echt. Er sah das.
Da sagte er sich: "Für diese Menschen bürge ich."
Und auf der anderen Seite sah er die Leute, die sich "die Eigentümer" nannten -- er sah deutlich, daß dies Schurken waren.
Großzügig und unkompliziert, wie er ist (denn er ist sehr schlicht und direkt: Tata hat Herz), sagte er: "Ich werde diese Jungen vor den Schlichen und der Korruption dieser Leute beschützen," die gefälschte Anklagen bei der Polizei hinterlegten, Verhaftungen veranlaßten ...
Er verbürgte sich. Er hatte den Mut zu sagen: "Nein, nein, nein, das ist nicht so."

T: Sie haben J.R.D. Tata mehrer Male getroffen, nicht wahr?

Ja.

T: Wußte er, was Mutter vorhatte?

Ja, aber er versteht nicht sehr gut, inwieweit Mutters und Sri Aurobindos Vorhaben von praktischer und konkreter Hilfe für die gegenwärtige Menschheit sein kann. Das versteht er nicht, denn für ihn ist das Problem vorrangig ökonomischer Ordnung.
Und dennoch gibt er selber zu, daß es einer Veränderung der menschlichen Natur bedarf.
In der Tat ist es nicht so sehr Indiens Geldbeutel, der verändert werden muß, sondern die menschliche Natur. Wenn nicht die menschliche Natur verändert wird, gelangt immer alles zum Scheitern.
Das heißt, es handelt sich nicht mehr um ein ökonomisches Problem.

T: Oder vielleicht beides. Er glaubt, wenn man keine ökonomische Lösung findet, werden alle Versuche einer Verbesserung der menschlichen Natur, der "Qualität des Menschen", wie der Gründer des "Club of Rome" sagte, zum Scheitern verurteilt sein, weil sie von anderen Kräften, denen wir nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt haben, matt gesetzt werden. Wenn man ein Feuer im Wald nebenan sich unangefochten ausbreiten läßt, nützen alle Erfahrungen zur Vorbereitung des Weges zu einer neuen Spezies nichts. Vermag die Kraft einer solchen Erfahrung das Feuer anzuhalten? Oder wird sich das Feuer unweigerlich und unerbittlich verbreiten und alles zerstören ...

Was Sie da sagen ist sehr wahr, nur sprechen wir da von einer kommenden Spezies, als sei es ... etwas in ferner Zukunft! Während wir doch MITTEN im Augenblick sind -- es ist dabei zu geschehen.
Man gibt dem Phänomen falsche Erklärungen. Aber das wahre Phänomen ist evolutionären Ranges.

T: Das ist es.

Es ist wirklich ein Zerbrechen der alten Art, damit eine neue Möglichkeit ihren Platz einnehmen kann.
Das ist der wahre Schlüssel.
Die nächste Spezies ist nicht für das nächste Jahrhundert: sie ist für jetzt, für sofort.
Wir leben es. Wir sind dabei, es zu leben.

*

Der Instinkt

T: Berührt dieses Eindringen, dieser Hinabstieg oder Aufstieg ins Bewußtsein, das, was wir die Welt des Instinkts bezeichnen?

Instinkt? Was meinen wir mit Instinkt?
Das sind mentale Kategorien. Man klebt Etiketten darauf, um nicht sehen zu müssen, was darin steckt.
Was ist der Instinkt?
Der Instinkt des Menschen? Der Instinkt des Vogels?
Der Instinkt des Steins?
Der Instinkt der Welt ist ... die Welt zu sein!
Der Instinkt des Atomkerns ist, Elektronen einzufangen!
Der Instinkt des Vogels ist, mit der ganzen ihm erforderlichen Welt zu kommunizieren, ohne Trennung!
Wir können nicht verstehen, daß die Welt eine völlige Einheit ohne Trennung ist. Wir bilden uns ein, daß sich eine Wahrnehmung der Welt nur durch gewisse Instinkte, die wir besitzen, erklären läßt. Aber das ist nicht so. Hat Herr Towarnicki den "Instinkt" seiner großen Zehe oder ist seine große Zehe ein Teil von ihm?

T: Kann die Beobachtung der Tiere oder der Insekten dem Menschen eine Lehre sein, ihm etwas zeigen?

Nun, es kann ihm hauptsächlich das zeigen, was er vergessen hat.
Nicht wahr, alles kommuniziert in der Welt. Nur wir sind vollkommen von der Welt getrennt.
Für einen Vogel, eine Languste oder eine Spitzmaus ist die Welt sofort gegenwärtig! Sie kommunizieren mit allem, das sie benötigen.
Weshalb kommunizieren sie?
Nicht weil sie etwas in der Ferne "betrachten", das sie genauer sehen möchten oder ... Sie sind augenblicklich die Welt, die sie benötigen. Die Welt ist nicht etwas, das außerhalb des Mungo liegt! Der Mungo lebt und erlebt die Welt: er erlebt die Kobra, den Geruch, es ist alles Teil von ihm. Deshalb braucht er nichts zu "erahnen" ... Und der Vogel, der von Sibirien kommt, braucht nicht zu erahnen, daß Ceylon irgendwo dort liegt! Ceylon ist nicht irgendwo dort! Die Welt vollzieht sich in jedem Augenblick im Tier. Und in der Sekunde, wo es da sein soll, ist es da. Es ist nicht "dort in der Ferne", verstehen Sie. Es ist nicht "morgen".

T: Ja, aber der Mensch ist kein Tier!

Nein, aber er hat sich von allem abgetrennt; er hat sich in ein Goldfischglas eingeschlossen. Er kann mit nichts mehr direkt kommunizieren. Er muß Fernsprecher, Fernschreiber, Fernseher oder Fernrohre erfinden, um mit den Dingen in der Ferne zu kommunizieren.
In der Tierwelt aber gibt es keine "Ferne".
Das können wir so schwer begreifen.
Der Instinkt des Vogels besteht darin, daß er die Welt IST. Er IST die Geographie. Er IST Ceylon. Er IST in jeder Sekunde dort, wo er fliegt; und in jedem Augenblick ist die Welt in ihm zugegen -- die Welt läuft in ihm ab, er fliegt nicht über die Welt.

T: Aber das Tier kann doch wohl kein Vorbild für den Menschen sein?

Aber gewiß kann es ein Vorbild sein!
Unter all diesen Dingen leiden wir ja gerade: mit nichts mehr zu kommunizieren, nicht mehr klar zu sehen, nicht mehr zu wissen ... Wir wissen überhaupt nichts mehr! Außer über Bücher, Ratschläge, Ärzte, Ingenieure ... Durch diese riesige Maschinerie wissen wir einiges. Aber sobald wir die Maschinerie verlassen, wissen wir nichts mehr über die Welt! Wir haben überhaupt keine Macht über die Welt, überhaupt keine Sicht der Welt, außer das, was direkt vor unserer Nase liegt.

T: Ja, aber der Aktionsradius des Vogels oder des Tieres ist relativ beschränkt. Der Mensch hat eine andere Stellung im Universum.

Aber in dem Augenblick, in dem er die Weite des Tieres, die völlige Kommunion des Tieres wiederfindet, nun aber mit dem Bewußtsein, das er sich angeeignet hat, wird sein Aktionsradius eben nicht mehr auf den eines Vogels, einer Languste oder eines Hundes beschränkt sein: er wird einen viel weitreichenderen Handlungsraum haben.

*


Die Wiedergeburt (der Taxizähler)

T: Welche Bedeutung kann ein Glaube wie der an die Wiedergeburt in Sri Aurobindos oder Mutters oder Ihrer Erfahrung haben?

Zuerst einmal ist das kein Glaube: es ist eine Tatsache.
Aber es werden soviel billige Vorstellungen damit vermischt, daß es schwer ist, darüber zu reden.
Unsere wissenschaftliche und technische Zivilisation spricht von Atavismus, Chromosomen, Großvätern und Urgroßvätern; gut, das ist eine andere Form von "Wiedergeburt". Aber wie immer klammern wir uns da an eine sehr oberflächliche Gesetzmäßigkeit.
Es kann keinen Zweifel geben, daß ein Mensch nicht nur einmal auf die Welt kommt. Denn sollte seine menschliche Erfahrung wirklich auf das beschränkt sein, was er während 40, 60 oder 37 Jahren seines Lebens ist, wäre das eine erschreckende Absurdheit: auf einmal die Augen zu öffnen, um so wenige Erfahrungen in so kurzer Zeit zu
machen. Wenn man wirklich am Ende umkippte und alles wäre damit vorbei, wäre das recht monströs.
Aber wir haben eine so begrenzte und kurze Sicht der Dinge.
Man kann doch sicher verstehen, daß bestimmte Dinge im eigenen Fleisch, die so brennend oder schwierig oder widersprüchlich sind, von weither kommen, von anderswo her kommen.
Warum besitzen manche Wesen eine größere Intensität als andere? Warum sind manche Wesen von solch schwerer Düsternis? Warum haben manche Wesen diesen Ruf nach dem Licht?
Ist es wegen einiger Chromosomen des Großvaters, der Mutter oder des Urgroßvaters? Oder ist es nicht viel mehr die Fortsetzung einer Frage, die sie vor langer Zeit stellten, einer Schwierigkeit, die sie vor langer Zeit in sich trugen und deren Lösung sie nicht fanden? Oder eines Rufes, den sie vor langer Zeit hatten, der nun eine Antwort findet?
Es ist sehr schwer, über diese Dinge zu sprechen, denn es entstehen sofort naive Bilder und man ist die Reinkarnation von Alexander oder Karl dem Großen oder ... Das ist alles sehr kindisch.
Wir sind die Reinkarnation unserer Hoffnung.
Wir sind die Reinkarnation unseres Betens.
Wir haben lange gewünscht, lange gehofft und gebetet, damit etwas sich verwirklicht; das ist aber doch nicht plötzlich vorbei, nur weil man auf den Scheiterhaufen oder in ein Loch gelegt wird. Dieses Gebet und dieser Ruf folgen uns. Diese so schwere Düsternis, die wir durchgemacht haben, folgt uns.
Wenn wir nur das vollständige Bild überschauen könnten, würden wir von Zeitalter zu Zeitalter eine selbe Geschichte in verschiedenen Kostümen und in anscheinend verschiedenen Lagen erkennen; aber hinter diesem ganzen Schauspiel (das mag sich in Ägypten, in Griechenland, in Rom, in Europa oder in Indien abspielen), hinter diesem ganzen Dekor sähen wir denselben Ruf auf der Suche -- denselben Schrei nach etwas. Und von Zeit zu Zeit würden wir hinter diesem Dekor, unter diesem Kostüm einen so tiefen Atem hören, der uns ergreift: der die Kostüme bloßlegt und uns unseren Platz in einer so alten Herkunft zeigt, auf einem großen, großen Weg, der immer war, und man ... man spürt: man wird immer sein.

T: Das ist ein wunderbares Zaubermärchen! Aber in diesem Bereich gibt es keinerlei Gewißheiten.

Aber nein! Diese Sekunden, in denen die Kleidung und der Dekor wegfallen -- dieses Loch, in dem alles wie ein Papier-Schloß wegfällt --, sind so deutlich, daß es keiner Zweifel und keiner Gewißheiten bedarf [lachend]: man lebt die Offensichtlichkeit.
Man spürt deutlich, daß man "das" gelebt hat und wieder leben wird; daß es wie die eigentliche Essenz unseres Wesens während seiner langen Pilgerfahrt unter einem römischen, griechischen, ägyptischen oder hinduistischen Kostüm ist und daß es immer dasselbe Wesen auf dieser ... Wanderung war.

T: Es handelt sich also um die Reinkarnation eines Individuums, einer Person, eines Bewußtseins? Das ist so schwer zu verstehen. Denn viele Menschen glauben an eine Art Reinkarnation der Kräfte, und sei es auch nur auf der physischen, biologischen Ebene. Aber die Wiedergeburt eines Bewußtseins, einer Persönlichkeit, eines "Ichs" ... Das ist schwer zu verstehen, umso mehr, als die Mehrheit der Menschen überhaupt keine wirkliche Erinnerung aus vergangenen Leben besitzt.

Aber natürlich nicht.
Was kann sich denn schon von einem Leben zum anderen "übertragen"?
Alle unsere materiellen Sorgen (egal ob in griechisch, ägyptisch, hinduistisch, chinesisch oder französisch): "ich werde soundsoviel verdienen", "ich werde diese Stellung erreichen", "ich werde eine Familie gründen" -- all das ist reine Nichtigkeit , wenn ich so sagen darf. Das bleibt nicht: das ändert sich, bricht, stirbt.
Aber was bleibt in einem Leben?
Nehmen wir unser Leben, das gegenwärtige: was bleibt ?
Wenn man in die Vergangenheit schaut (20 Jahre, 30 Jahre zurück), wenn man dieses Dasein wie aus der Vogelperspektive überschaut, was bleibt wirklich?
Sind es unsere Sorgen um eintausend Belanglosigkeiten? ... Gewiß nicht. Aber es gibt bevorzugte Augenblicke, wenn man wie ein reiner Schrei ist, wie ein großer Blick, der sich öffnet. Vielleicht auf nichts, aber er ist das einzige, was existiert.
Diese Augenblicke leuchten.
Es ist das einzige, was von diesen 20, 30, 40 Jahren unseres Lebens bleibt.
Plötzlich hält man auf der Straße inne, sieht diese Menschenmenge, diese Menge von Schatten, die zu Terminen, U-Bahnen, Geschäften stürzen -- man steckt darin, ist wie verschlungen von der Menge; und dann gibt es plötzlich etwas wie einen Schrei in der Tiefe des Herzens, man reißt die Augen auf und sagt sich: "Aber ... aber ... aber ... wer? wer bin ich? was bin ich? was ist da in dieser ... Menge von Schatten?"
In dieser Sekunde öffnet sich der Blick. Alles bleibt stehen, die Menge ist verschwunden. All die Belanglosigkeiten sind verschwunden. Und auf einmal entsteht eine so besondere Schwingung in der Tiefe des Herzens. Und es ist, als hätte diese Sekunde schon immer geschwungen.
Plötzlich ist eine Bank im Abendlicht wie fixiert, ein Schaufenster ist wie fixiert; ganz unbedeutende Einzelheiten sind wie für alle Ewigkeit eingraviert und angeklammert an diese Sekunde, wo man plötzlich schrie -- wo man seinen wahren Schrei des Menschen ausstieß.
Das bleibt. Dies sind die wahren Sekunden eines ganzen Lebens.
Diese Augenblicke, in denen wir das Theater des Lebens durchstießen, unsere "Frage" stellten, unseren einzigen Blick öffneten und wo diese Sekunde ihre Fülle erhielt.
Das ist es, was bleibt.
Das ist es, was sich in ein anderes Leben überträgt.
Für viele Menschen gibt es nur sehr wenige Sekunden, die in ihrem Leben wirklich waren. Für andere waren diese brennenden und intensiven Sekunden zahlreicher.
Vielleicht erklärt sich dadurch auch die unterschiedliche Intensität der Wesen oder die unterschiedliche "Beschaffenheit".
Hier haben wir einen Schimmer davon, was die Wiedergeburt sein mag.
Es geht nicht um die Reinkarnation eines großen Kriegers oder eines großen Konsuls, verstehen Sie. Es ist die Reinkarnation einer kleinen Flamme der Wahrheit, die sich bemüht, dieses Leben mehr und mehr zu erfüllen, das sonst so voller leerer Sekunden ist, als hätte es sie nie gegeben.
Ich erinnere mich der Straßen Brasiliens; ich erinnere mich, wie ich lief ... und ich sah die Steine auf der Straße und sagte: "JEDE SEKUNDE, JEDER STEIN muß SEIN. Jede Sekunde muß ihre Fülle haben. Nicht irgendetwas, in dem man läuft und läuft und es ist, als existierte es nicht."
Einmal in einem Taxi in Paris sah ich den Zähler ticken: 0 Franc 60, 0 Franc 80, 1 Franc 10 ... und was geschah in all dieser Zeit? -- Ein Zähler tickt und zeigt 2 Groschen mehr an, 4 Groschen mehr. Als ich diesen Zähler sah, war ich ... es schnürte mir die Kehle zu. Ich sagte mir: "Aber was IST in dieser ganzen Zeit? Was ist, das nicht 2 Groschen kostet? Was ist ?"
Solche Sekunden bleiben bestehen. Und wenn man anfängt, diese Sekunden zu leben, erhalten sie eine "Reinheit", eine so einfache Schönheit, einen solchen Schrei des wahren Menschen, daß man sich wünscht, sie mögen sich wiederholen und immer wiederholen und daß jede Sekunde "bestehend" und lebend sei. Daß es das sei, was man ist: daß man in jeder Sekunde ein Mensch sei. Nicht nur ein Anzug, der sich von einer U-Bahnstation zu nächsten bewegt und von einem Geschäft zum nächsten und von einer Frau zur nächsten und ... Was ist das denn alles? -- Es ist eine erschreckende Nichtigkeit.
Aber diese kleinen Sekunden, in denen man plötzlich innehielt und seinen Schrei austieß: wo bin ich? wo bin ich? was tue ich? was tue ich hier?
Wenn diese "Frage" eine Intensität oder ein Brennen enthält, ist es plötzlich als wäre sie die Antwort selbst. Es ist, als wäre man plötzlich etwas.
Diese Sekunden leben für immer.
Und von Leben zu Leben wird jeder Mensch ein wenig mehr "Mensch" ... er wird ein wenig "voller" von dem, was er wirklich ist.
Kein Dekor, kein Kostüm, keine Funktion, nicht wahr, keine Aufzählung wie für einen Reisepaß oder ein Strafregister; sondern einige kleine brennende Sekunden, so wahr und so rein, in denen das Menschsein plötzlich einen Sinn hatte, den ein Fisch oder ein Klapperstorch nicht haben kann.

T: Auf indischem Boden ist der Glaube an die Wiedergeburt weiterhin sehr verbreitet ...

Aber es ist kein ...

T: Ist die Art der Leute, diesen Glauben zu leben, für Sie die eigentliche Wiedergeburt? Was ich sagen möchte, ist: der Glaube an die Wiedergeburt ist in Indien sehr verbreitet; vielleicht entstand er überhaupt hier. Noch heute leben Millionen und Millionen Inder in diesem Glauben. Ist es dies, was die Menschen Ihrer Ansicht nach auf die eine oder andere Art leben?

Ich versuche die Sache in ihrem wesentlichen Kern, in ihrer tiefen Wahrheit auszudrücken.
Für einen Inder ist die Wiedergeburt kein Glaube. Ich würde sagen, für die Inder ist das nicht mehr Glaube, als die Chromosomen ein Glaube für uns sind oder als der Atavismus für uns ein Glaube ist. Es ist eine Tatsache, die ihnen völlig offensichtlich scheint, weil sie es in ihrem eigenen Fleisch verstehen. Sie verstehen sehr gut, wenn ihnen dieses oder jenes Unglück zustößt, ja, dann muß es wohl die Folge irgendeiner vergangenen Tat sein, und wenn das Unglück passiert, ist es für sie kein "Zufall": für sie ist es ein Problem, das es zu lösen gilt und dessen Lösung sie vielleicht in einem vergangenen Leben nicht fanden und jetzt stellt es sich wieder: gut, man muß die Lösung des Unglücks finden, sonst wird es sich nocheinmal wiederholen.
Eigentlich ist die Bedeutung der Wiedergeburt eine fortschreitende Entwicklung des Bewußtseins.
Wir werden mit bestimmten Schwierigkeiten, die uns begegnen, konfrontiert, aber nicht als Unfälle, sondern um uns zu zwingen , einen weiteren Schritt nach vorne zu tun. Nicht, um uns zu erdrücken, sondern um uns zu zwingen, weiterzugehen.
Wenn wir nur verstehen könnten, wie sehr alles positiv ist. Daß nichts ein Unfall ist, nichts ein Unglück ist -- nichts, nichts --, selbst das nicht, was am schrecklichsten erscheint. Daß alles eine positive Bedeutung hat und alles ein MITTEL ist, um uns in der Entwicklung unseres Wesens einen Schritt nach vorne zu bringen, und daß die ganze Weltgeschichte, wenn man es jetzt global betrachtet -- die Geschichte der Nationen, der Kontinente, der Zivilisationen -- ein Mittel ist, um das gesamte irdische Bewußtsein einen Schritt nach vorne zu bewegen.
Die Reinkarnation kann man auch in der Geschichte beobachten: von Kontinent zu Kontinent, von Nation zu Nation und selbst innerhalb der Geschichte einer Nation.
Wo es aber vollkommen absurd wird, ist in der ganzen Vorstellungswelt, die man dazugibt. Das sind Erfindungen: "Ich war soundso", "ich war Rittmeister im Krieg", "ich war ...". Das hat keinen Sinn -- jedenfalls nicht viel. Es ist nicht unbedingt immer falsch, aber in 99,9 Fällen ist es reine Einbildung.

T: Sie wäre also im Sinne ... in der Perspektive der Evolution zu verstehen?

Aber alles ist Evolution! Es gibt nichts als Evolution!
Aber was ist die Evolution? Wohin führt sie?
Es ist die fortschreitende Entdeckung der Schönheit, die es gibt, der Liebe, die es gibt -- DESSEN, was wirklich besteht, vor unseren Augen, in der Materie, in uns selbst, in unserem Körper.
Es ist wirklich nicht die Entdeckung von etwas anderem.
Es ist die Entdeckung von dem, was da ist und was wir nicht sehen, nicht verstehen -- das, was durch alle möglichen Gewohnheiten verdeckt ist.
Nach und nach entblößt sich wirklich das Wunder.
Jede Spezies ist wie ein neuer Blick, der sich auf der Erde öffnet.
Und unser menschlicher Blick ist sicherlich offener als jener der Languste. Aber es ist noch nicht der volle Blick für alles, was da ist auf der Erde.
Die Evolution bedeutet ein Blick, der wächst.
Und schließlich bedeutet es, alles zu sein, was da ist.