Prolog

FÜNFZIG JAHRE SPÄTER

Ich träumte zu sagen ...
was Leben bewirkt,
was Lazarus sah,
als er dem Grab entstieg.

Ich träumte,
das Geheimnis der Geheimnisse zu sagen,
was eine Pflanze kennt,
was ein Tier schaut,
im Flug
seinen Weg nehmend,
ohne zu wissen, dennoch wissend.

Ich träumte zu sagen,
was die Weisen
aller Zeiten wußten (wenn auch nur halbwegs),
was die Seher
der unterirdischen Gräber sahen (wenn auch nur halbwegs).

Ich träumte zu sagen,
was die Götter nicht wissen
in ihren entlegenen Himmeln,
was die Teufel etwas besser wissen
in ihren Abgründen,
was das kleine Moos,
angeklammert an seinen Felsen
sehr gut kennt
ohne Höhe, ohne Tiefe
ohne Grab noch Himmel.

Ich träumte zu sagen,
was eine Alge atmet,
ohne umhüllende Schale,
ohne Wissende, die ihr sagen,
was sie nicht weiß.

Ich träumte,
diese ewige Luft zu sagen,
die die Lebenden und die Toten
leben läßt,
was die Jahrtausende
immer schon wußten
in unseren Katakomben
oder unseren hübschen Gefängnissen.

Ich träumte,
diese Millionen Schmerzen zu sagen,
die eine Freude trugen
diese Millionen Nächte,
die eine Sonne trugen,
diese Gefängnisse und die Gefängnisse,
die eine große Weite enthielten,
diese Millionen verkleideter Formen,
von Mauern umgeben,
die vor Unendlichkeit erbebten,
die ihr eigenes Ziel trugen,
niemals gefunden, immer da.

Ich träumte davon, die Menschen zu demaskieren,
sowohl ihre Götter wie ihre Teufel
und ihre nächtliche Wissenschaft
und diesen Tod, der anderes verbirgt,
und dieses Leben, das sein Grab verbirgt.
Ich träumte zu sagen,
was da ist
unter der Haut eines Menschen
oder einer Eidechse,
im Herzen der Galaxien oder eines Sandkorns,
was uns da sein läßt
am Ende der Jahrhunderte, der Schmerzen,
am Ende der Millionen von Toden,
um zu suchen ...
was da ist.

Und was ist da?
Und was pocht immer
noch und noch
uns zum Trotz
seit dem ersten Moos,
seit dem ersten Schmerzensschrei?

Lazarus entstieg seinem Grab
Millionen Male
in uns.

Ich träumte zu sagen
ich träumte zu sagen ...
was du weißt,
ohne zu wissen.

15. November 1943

11. November 1993

Diese kleinen Atemstöße kamen mir "einfach so", um die Tage meines Todes zu feiern, die der Anfang meines Lebens waren. Denn so ist das Schicksal. Sie waren nicht für dieses noch nicht verfaßte Buch bestimmt, aber sie waren vielleicht dessen Prolog.

Meine Absicht ist weder, eine Darstellung des griechischen Denkens noch von Sophokles' Theater zu geben, sondern die Regungen von menschlichen Wesen zu erfassen, wie sie empfanden, litten und reagierten, vor zweitausendfünfhundert Jahren, zur Zeit des Sophokles, der so gut und so umfassend die Menschen vor unserer Zeit zu verstehen wußte. Es ist ein Zustand des menschlichen Bewußtseins, der unser Interesse erweckt.

Weh! weh! O unnützer Kadaver!

Sophokles, Elektra

I

Die Tragödie der Erde

Selbst Homer stufte das Schicksal höher ein als die Götter.

Sri Aurobindo setzte das Unsterbliche im Menschen über die Götter und über das Schicksal.

Mit einer etwas heftigen Wendung können wir im zwanzigsten Jahrhundert landen und wieder die Stimme von Sri Aurobindo hören, einfach, ruhig, wie die betrachtenden Jahrhunderte:

Maschinerie ist für die moderne Menschheit nötig wegen unserer unheilbaren Barbarei. [[Thoughts and Aphorisms, Nr. 383 ]]

Die Maschinen haben sogar den Platz des Schicksals eingenommen, oder vielleicht sind sie das maskierte Schicksal. Zweifellos haben sie den Platz des Menschen eingenommen, um die kleinen Barbaren, die wir sind, übersättigt von Wissenschaft und Religion, besser ans Licht zu bringen, als ob diese viereinhalb Milliarden Jahre von Schmerzen, Martern und Erschütterungen nur dazu gedient hätten, einen selbstgefälligen Primaten hervorzubringen, religiös und wissenschaftlich oder schamlos, wie man will - einen Nicht-Menschen oder einen Noch-Nicht-Menschen, und noch nicht Meister seines Schicksals.

Wir KÖNNEN, sind mächtig, aber wir wissen noch nicht, wer wir sind und wer da ist, deshalb sind wir Sklaven von gigantischen und grausamen Kräften, und wir können nur den Tod und die Zerstörung und die tausend "Heilmittel" und die tausend Kunstgriffe unserer Ohnmacht.

Wir KÖNNEN, sind mächtig, das ist der beständige Chor dieser großen epischen Tragödie, Savitri - des gesamten Werks Sri Aurobindos, seines ganzen Lebens - selbst über den Tod.

Und da wir dieses Rätsel noch nicht gelöst haben, das einige Milliarden Jahre vor der Sphinx entstand, haben wir nichts von unserem Leben und unserer Erde gelöst - der Tod ist berechtigt, der Schmerz ist berechtigt, unsere Zerstörungen sind berechtigt, und man könnte sagen, das Unrecht ist berechtigt, denn sie zerstören, was wir nicht oder noch nicht sind, und sie wollen uns zwingen, durch Feuer und Peitsche und Blitz zu finden, wer wir sind, und was wir KÖNNEN, am Ende dieser Jahrtausende einer vorbereitenden Barbarei. Du, o Zeus, o Vater, schrie Simonides von Keos im 6. Jahrhundert vor unserem jungen Zeitalter, ändere unser Schicksal! Aber wenn mein Gebet zu gewagt ist und vom gerechten Weg abweicht, vergib mir!

Sri Aurobindo wagte es.

Wem kommt es seit zwanzig Jahrhunderten auch nur in den Sinn, darum zu bitten, das Schicksal zu ändern? Wir ändern nur die Kleidung und den Flitterkram und manchmal die Religionen, während wir gleichzeitig von einem Krieg zum andern übergehen. Und was ist Schicksal? Man stirbt und beginnt wieder, anscheinend ein wenig besser. Aber seit der Zeit der Höhlenmenschen hat sich dieses Bessere nicht verbessert. Vom Keulenhieb bis zur Bombe sind wir dieselben Barbaren geblieben, ohnmächtig und um so unwissender, da wir glauben zu wissen.

Was können wir? Das ist genau die Frage, die uns das Schicksal und diese jahrmilliardenalte Evolution stellt. Es ist die Frage der Erde selbst, dieser kleinen Kugel, die sich in einem Raum dreht, der so leer wie unser Herz ist. Vielleicht hat sie sich genug gedreht, um einen Sokrates hervorzubringen, der endlich die Frage stellt, und einen Dichter des Massakers bei den Thermopylen, der diesen Schrei zu Zeus ausstößt, um das Schicksal zu ändern.

Aber wo zum Teufel sind wir nach fünfundzwanzig Jahrhunderten mit unseren verschiedenen Erlösern, die immer noch nichts gerettet haben?

Wir verbessern die Gene und die Chromosomen, wie es scheint, um was hervorzubringen? Die nächsten Toten unter denselben Sternen? Und wir glauben den Chor in Antigone zu hören:

Von weither steigen die Leiden, die ich sehe,
unter dem Dach der Menschen
[[Ich habe mir erlaubt, "unter dem Dach der Labdakiden", der Familie Antigones, in "das Dach der menschlichen Familie" zu ändern. ]]

immer nach den Toten,
sich auf die Lebenden
niederschlagend,
ohne daß irgendein Vater
jemals
seine Kinder befreit ...
und immer wird dieses Gesetz
morgen wie gestern vorherrschen:
kein Sterblicher erreicht
das Äußerste seines Glückes,
ohne seinem Verderben zu begegnen.

Nichts wird verändert werden, weder die Welt noch die Sterne, solange der Tod nicht verändert ist - man kann nicht das Leben ändern, unser Leben, ohne den Tod zu verändern. Dies ist das Schicksal, unser Schicksal und das der Erde. Sonst ändern wir nur unsere belanglosen Kleider, gleichermaßen schicksalhaft und gleichermaßen grausam - bis wir das gefunden haben, wofür wir da sind, hier auf der Erde, nicht in den Himmeln, seit einer ersten kleinen Zelle einer ersten kleinen Alge in Grönland vor drei Milliarden Jahren. Denn das Schicksal beginnt dort. Und im Herzen dieser ersten kleinen Zelle ist die Antwort enthalten.

Aber wir sind noch nie bis dorthin vorgedrungen, nicht einmal mit unseren Mikroskopen, die uns nur unseren eigenen Barbarenblick widerspiegeln.

Man muß

die Kluft zwischen dem Schicksal und der Kraft des Menschen überbrücken

sagt Sri Aurobindo schon in den ersten Gesängen von Savitri. [[Savitri, I.3.35; in der Übers. v. Heinz Kappes, S. 45 ]]

Nach den Erfindungen unserer Ohnmacht brauchen wir die Erfindung unserer Macht oder ihr Wiederfinden.

Und Mutter, diese eigentliche Darstellerin von Sri Aurobindos großer Tragödie, rief aus:

Man muß den Tod besiegen, damit es keinen Tod mehr gibt, das ist sehr klar. [[Mutters Agenda, Band VI, 8.9.65, S. 224 ]]

Und wieder, zehn Jahre vor dem schrecklichen oder erhabenen Ende dieser Tragödie:

ERWACHE UND WOLLE!

Und sie fügte hinzu:

Weißt du, was den Widerständen Kraft verleiht (Widerstand ist immer der Tod), ist eine abergläubische Unwissenheit - abergläubisch im Sinne eines Vertrauens, zumindest eines Glaubens an das Schicksal, an dessen Zwangsläufigkeit. Das ist in die menschliche Substanz eingewoben ...
Daraus schließt man dann, daß es ein gutes und ein schlechtes Schicksal gibt, sowie eine göttliche Kraft, die man als etwas ganz und gar Unverständliches betrachtet, das völlig unerklärliche Absichten und Ziele verfolgt; dann besteht die Hingabe, das "surrender", in einer blinden Akzeptanz all dessen, was kommt. Die Natur lehnt sich zwar auf, aber sozusagen gegen eine Absolutheit, gegen die sie nichts ausrichten kann. All das ist reine Unwissenheit. Keine einzige von all diesen Regungen ist wahr - angefangen von der intensiven Revolte bis hin zur blinden Unterwerfung ist alles falsch, darin liegt keine einzige wahre Regung. Aber ... ich höre sehr deutlich (nicht für mich, sondern für die Menschheit): ERWACHE UND WOLLE! Das ist wie ein Schlüssel, der die Tore zur Zukunft öffnet
. [[Mutters Agenda, Bd. IV, 23.11.63, S. 373 ]]

Atemlos hörte ich ihr zu - ich, der Schreiber, wie früher in Theben am Hof der Königin Teje -, sah sie diese widerspenstige Materie bearbeiten, in der sich der letzte Widerstand verbirgt und der Schlüssel für die Zukunft - beides zusammen. Nach Luft ringend und unbezähmbar, sagte Mutter zehn Jahre später, meine Hände drückend, wie die Hände unserer barbarischen Menschheit, selbst wie Elektra die Urne mit der Asche Orests, ihres Bruders, umklammert haben mochte, um ihn wiederzubeleben, unsere Asche! unsere Asche! - o unnützer Kadaver, der wir sind, weil wir es wollen, weil wir nicht wissen, wer wir sind, noch nicht: Für die Menschheit ist die höchste Verwirklichung das Verstehen: die Dinge zu verstehen. Für das Supramental ist die Verwirklichung die Macht, der schöpferische Wille ... die Verwirklichung von morgen. [[Mutters Agenda, Bd. XIII, 17.5.72 ]]

Das Ende der Maschinen. Alle Notwendigkeiten des Lebens werden durch die direkte Macht des Bewußtseins geschaffen und geformt oder umgeformt. Aber Vorsicht! Dieses noch unbekannte Bewußtsein liegt nicht dort oben in einem Super-Intellekt sondern im Gegenteil am anderen Ende des Spektrums, am Grunde des Körpers, auf dem Boden der Gräber und der Höllen, dort, wo das Wunder des Lebens in einem ersten Nährboden aus Plasma und Dämpfen hervorsprang. Und das erste Wunder enthält sein letztes schwieriges Wunder ... Ich hörte ihr zu, ich hörte sie stöhnen, und dann plötzlich ihr strahlendes Lächeln, immer: Es ist, als ob sich eine übermenschliche Kraft durch Jahrtausende von Ohnmachten manifestieren wollte. Dieser Körper hier besteht aus Jahrtausenden von Ohnmachten. Und eine übermenschliche Kraft versucht ... sie drängt hier, um sich zu manifestieren. So ist es. Wohin das führen wird? Ich weiß es nicht. [[Mutters Agenda, Bd. XIII, 31.5.72 ]]

Und dennoch, noch am letzten Tag, bevor sich die Türen des Schicksals, dem Willen der Menschen zufolge, hinter ihr schlossen, einsam und von Geiern umgeben, die Tag für Tag ihr eigenes kleines Unheil vorzogen, rufen wir Sri Aurobindo auf, während sie die Hände eines Menschen drückte, der nicht den Tod wollte, der NEIN sagte mit seinem ganzen Herzen und seinem ganzen Körper.

- In Savitri sagt er deutlich:

Allmächtige Kräfte sind in den Zellen der Natur eingeschlossen ... [[Savitri, IV.3.370, s.a. Übers. v. H. Kappes, S. 384 ]]

Er sagt es deutlich: es ist da, darinnen, in den Zellen selbst. Jetzt muß es geschehen. Jetzt ...

- Wieviel Uhr ist es? fragte sie mich.

- Fünf vor elf. [[Mutters Agenda, Bd. XIII, 19.5.73 ]]

Dann schloß sich die Tür hinter ihr - diesem Lächeln, dieser Hoffnung - von ihren eigenen Schülern eingemauert, so wie Antigone.

Aber es ist nicht der letzte Akt jener Tragödie. Denn es ist die Tragödie unserer Erde selbst.

Und Orest, unser Bruder, wird auferstehen.

Dunkel, o du mein Licht [[Sophokles, Aias, S. 46 ]]

Sophokles, Aias

II

Das Paradox der Hölle

In Wahrheit wiederholt jeder Mensch das Mysterium aller Jahrhunderte und des ganzen Menschengeschlechts, er weiß es nur nicht immer. In dem Augenblick, wo er es weiß, tritt er in das Schicksal.

Der Augenblick, wo man vor dem Mysterium steht ...

Die zwei äußersten Pole der Existenz dicht nebeneinander.

Sophokles ist der ergreifendste von allen griechischen Tragödien-Dichtern. Man fühlt seinen Blick, blau wie das Ägäische Meer, weit, ruhig, und seine Frage und sein Schweigen. Eine Tragödie, das ist der Ort, wo man spricht, und dennoch sind seine Chöre von Schweigen unterbrochen, seine Helden, schweigend, allein, immer allein, geraten immer tiefer in ihre Bestimmung, angesichts des Meeres oder einer Mauer, in einem schmerzlichen Augenblick, wo alles sich ballt. Und alles ist eine Frage - allein eine Frage. Die Lösung, die Antwort ist erst die Handlung am Ende. Die Geschichte hört hier endgültig auf, lauten die letzten Worte des Chors in König Ödipus auf Kolonos.

Hört sie jemals auf? Diese Geschichte von uns allen.

Sophokles erschüttert uns, denn er sagt niemals: "Das ist gerecht, das ist ungerecht, das ist gut, das ist schlecht - es ist die Schuld von..." Es ist die Schuld aller, es ist das Übel dieser ganzen unglücklichen Erde. Und schließlich "so ist's". Das Schweigen diskutiert nicht: es ist. Vielleicht ist es der einzige Augenblick, in dem man ist.

Und dennoch diese brennende Frage hinter allem, in jedem und in jeder Handlung.

Könnte man den blauen Blick von Sophokles einfangen ...

Und man hört die Stimme der Chorführerin, die sich an Elektra wendet:

Von einem Sterblichen stammst du, Elektra.
Bedenke das! Und sterblich war Orest.
Drum klage nicht zu sehr! Denn uns allen
ist dasselbe Schicksal bestimmt
. [[Sophokles, Elektra, s.a. F.B. S. 240 ]]

Oder das, was in der Stimme des Odysseus vibriert, der sich an Athene, die Tochter des Zeus, wendet, als sich die Tür hinter dem vom Wahnsinn befallenen Aias schließt:

Seh' ich doch, daß wir gar nichts andres sind, so viel
wir leben, als ein Schein und flüchtiger Schatten nur
. [[Sophokles, Aias, S. 38 ]]

Fünfundzwanzig Jahrhunderte später gewährt Sri Aurobindo einen anderen Blick, der dieselbe Frage sieht - aber mit einem Willen oder der Bestimmung, die wahre Antwort, die wahre Lösung zu finden, und Savitri spricht:

Denn sie war kein Gebilde erdenhafter Art,
geeignet nur für eines Tags Verwendung geschäftiger sorgloser Mächte,
kein Kinobild, das auf dem Schirm des Schicksals flimmerte,
nur halbbelebt für eine schnell vorübergehende Schau,
oder ein weggeworfnes Treibholz auf dem Ozean des Begehrens,
hineingeschleudert in die Wirbel unbändigen Wogenspiels,
in Strudeln zufälliger Umstände nur hin- und hergeworfen
als ein Geschöpf, geboren, um sich unter dieses Joch zu beugen,
ein Sklave und ein Spielzeug für die Herren der Zeit,
oder ein Bauer mehr im Schachspiel, um gerückt zu werden,
in langsamer Bewegung vorwärts auf dem unbeschränkten Brett
. [[Savitri, I.2.17-18, H.K. S. 27-28 ]]

Und dennoch führen uns die Momente des Schweigens bei Sophokles zu einer Antwort, sie öffnen sich ganz plötzlich zu etwas Ewigem, wo es den Tod nicht gibt, wo es das Böse nicht gibt, wo Recht und Unrecht sich in demselben Feuer mischen, in dem Etwas, das ist, als ob unser Herz plötzlich über allen Schmerzen und Übeln aufblühte. Da sind wir alle betroffen, ergriffen, als ob Sophokles nach fünfundzwanzig Jahrhunderten noch lebendig wäre - und es ist nicht, ganz und gar nicht, die Maske aus Stein, mit der gewisse moderne Tragiker, wie Cocteau in seiner infernalischen Maschine, das Gesicht des "König Ödipus" von Sophokles bedeckten: "Sieh an, Zuschauer", sagt Cocteau, "die Triebfeder ist ganz so aufgezogen, daß sie langsam durch ein menschliches Leben abrollt, eine der perfektesten Maschinen, konstruiert von den infernalischen Göttern zur mathematischen Vernichtung eines Sterblichen."

Nein, es ist etwas anderes.

Und auf dieses "Etwas" kommt es uns an.

***

Der archaische Ozean

Von den hundertdreiundzwanzig Tragödien des Sophokles sind nur sieben erhalten! Das ist wenig, um dieses ungeheure Genie einzuschätzen, das neunzig Jahre gelebt und bis zum Ende gearbeitet hat.

Aber was man bei Sophokles fühlt (ein wenig wie man den Duft des Meeres wittert), ist ein Sinn des Göttlichen überall, ein kosmisches Empfinden, wirklich wie das Meer, das alles umfängt: das Strandgut mit dem schwarzen Sand und dem Tang und der hübschen Wasserfläche, die sich im Wind kräuselt. Unsere modernen Religionen können das nicht verstehen, es ist zu weit, zu widersprüchlich. Das sind "Heiden", das sind "Götzendiener", Dionysos ist etwas betrunken - vielleicht wie das Boot von Rimbaud. Und alles ist von Verboten eingezäunt, wie das Strafgesetzbuch. Aber bei dieser kalten Abrechnung würden alle Helden des Sophokles beim Schwurgericht oder Roms Gericht vorgeladen werden, Elektra und Aias und Ödipus und die zarte Deianeira ... Und wohin führen uns nicht unsere "Verbote", unsere verschiedenen Schachteln von Sünden und Tugenden, von diesem und jenem, alle unsere eiskalten, mit Gold und Heiligenschein verzierten Verfechter der Gerechtigkeit? Vom "archaischen" Ozean sind wir in den Sumpf geraten.

So ist der Thron des Unbewußten wohl gesichert,
während die langsame Bewegung der Äonen sich vorüberspult,
das Tier in seiner heiligen Umzäunung döst,
der goldne Falke nicht mehr durch die Himmel kreisen kann
[[Savitri, I.2.18, H.K. S. 28 ]]

sagt Sri Aurobindo in Savitri.

Und der unermeßliche Sophokles, der all diese Morde betrachtet, diese heroischen Selbstmörder, diese prachtvollen und unerbittlichen Machthaber, diese schweigenden Frauen, gefallen und verlassen, die ihrem Schicksal entgegengehen, diese zweideutigen Orakel, die einen in genau das Schicksal hineinstürzen, dem man entgehen wollte - der unermeßliche Sophokles jedoch schaut höher und weiter:

Denn welcher menschliche Stolz könnte
deine Macht verkleinern, o Zeus!
Weder der Schlaf, der alle Wesen betört,
noch die unermüdlichen göttlichen Jahreszeiten
werden jemals darüber triumphieren.
Unempfindlich gegenüber dem Alter und den Zeiten, bleibst du
der absolute Meister des Olymp in strahlender Klarheit.

So spricht der Chor in Antigone.

Aber von welchem "Gott" sprechen wir, die Modernen, oder von welchem Zeus? Von welchem goldenen Falken?

Ist es wohl dieselbe Sache?

Wo ist denn diese "Sache"?

Welches ist dieses zweideutige Mysterium, das uns auf Flügeln oder Abgründen der Bestimmung entgegenträgt?

***

Die Fragen des Sophokles

Trotzdem hat Sophokles mindestens dreimal sein olympisches "Schweigen" gebrochen, um sein schwarzes Strandgut oder seine Riffe der Schiffsbrüchigen auf dem Ozean einer "blendenden Helle" zu betrachten, und er stellte ausdrücklich die eine Frage, während seine Helden sich damit zufrieden gaben, die Frage durch ihre Taten zu leben. Es findet sich in den Trachinierinnen, und es sind die letzten Worte von Hyllos, dem Sohn der Deianeira, als sich seine Mutter gerade umgebracht hatte, nachdem sie, ohne es zu wollen, Herakles, das Wesen, das sie auf der Welt am meisten liebte, vergiftet hatte:

Sie (die Götter) lassen als Väter, als Stifter laut
sich preisen und sehn solch Leid mit an
. [[Sophokles, Trachinierinnen, S. 119 ]]

Dann noch einmal in Philoktetes.

Es ist Philoktetes, der selbst spricht, allein, preisgegeben auf einer Insel, verlassen von seinen eigenen Kriegskameraden, von der Pest befallen, vergiftet von einer giftigen Schlange, die ihm die eifersüchtige Nymphe geschickt hatte:

Oh ich Unseliger! So hat der Vater wohl
als Sklaven mich und nicht als freien Mann gezeugt
. [[Sophokles, Philoktetes, S. 303 ]]

Dies ist vielleicht die brennendste und tiefste Frage - wir alle sind Sklaven, von allem. Von unserer Vergangenheit, von unzähligen Vätern, die uns gezeugt haben, von der Gegenwart und ihren provisorischen Herren und provisorischen Schlagwörtern, die man früher "Ideen" nannte, und von fertigen Gewohnheiten und von unseren Begierden, unzähligen Begierden, auch gezeugt von unzähligen brutalen Vorfahren ... und ... von einem Unbekannten, vor uns, das zieht, zieht ... wohin?

In einem der dunkelsten Gedanken in Sophokles' Werk, wo ich weiß nicht welcher Anruf oder welches stumme Gebet zu Zeus über die Verzweiflung hinaus vibriert, singt der Chor von "König Ödipus" - er singt wahrlich, dieser Chor:

Ihr Menschengeschlechter, ach,
euer Leben, wie muß ich es
gleich dem Nichts doch erachten
. [[Sophokles, König Ödipus, S. 205 ]]

Aber immer weist Sophokles die Verzweiflung zurück und ruft zur Tat. Zu Elektra, deren Vater Agamemnon heimtückisch von dem Liebhaber seiner Mutter ermordet worden war, und die dazu erniedrigt wurde, ihre Nahrung in ihrem eigenen Palast von Tisch zu Tisch gehend bei den Gästen zu erbetteln, spricht der Chor kalt:

Weder Klagen noch Gebete werden
deinen Vater dem Sumpf der Hölle entreißen,
in den alle hinabsteigen müssen ...
Du tötest dich langsam, ohne daß es dir gelingt,
dich von den Leiden zu befreien ...

Und beinah bittet er Elektra:

Stoße keinen Schrei der Revolte aus.

Seltsamerweise scheint Sophokles, indem er zum Dunkelsten, zum Unannehmbarsten, zum Widersprüchlichsten geht - vielleicht zum Widerspruch des Menschen selbst -, auf etwas hinzudrängen ... Auf etwas, das pocht, etwas, das lebt - das vielleicht das Leben selber ist in all diesem vergeblichen "Nichts". Wie eine höchste Herausforderung an den Menschen inmitten seines Unheils und seiner Schändlichkeit.

Und Theseus, der Sohn des Ägeus, König von Athen, erklärt in Ödipus auf Kolonos (das letzte Stück, das uns von Sophokles erhalten ist)

Wir sind ja nicht bestrebt, des Lebens Glanz
mit Worten zu erhöhen statt der
Tat. [[Sophokles, Ödipus auf Kolonos, F.B. S. 352 ]]

Und dennoch sind diese "Taten" nicht durch den Menschen selbst geschaffen, sondern Ananke, das Schicksal, drängt dazu, und es scheint alles zu organisieren oder alles zu desorganisieren, um zu einem bestimmten Punkt zu gelangen.

Einem Punkt des Menschen.

Man meint, hinter dem Schweigen von Sophokles die Stimme des Sokrates zu hören.

Sophokles war sechsundzwanzig, als Sokrates geboren wurde.

Er war achtundsechzig bei der Geburt von Plato. Aber nicht die "Ideen" brachten ihn in Bewegung, sondern das Geheimnis dieser menschlichen Bestimmung - wie man sich dem gegenüber verhält, das am meisten verneint, was man ist.

***

Der Augenblick des Mysteriums

Äschylus sagte dreißig Jahre vor Sophokles in den Schutzflehenden: Die Wege des göttlichen Gedankens gehen zu ihrem Ziel durch Gestrüpp und dichte Schatten, die kein Blick durchdringen kann. Sophokles selbst wollte "durchdringen".

Das Schicksal ist ein großes Mysterium. Und dennoch besteht es für jeden von uns, die wir "wie gewohnt" auf unseren Wegen kommen und gehen. Und dann ist es eines Tages nicht mehr so wie gewohnt.

Alles steht still. Es ist anders.

Es war ein Lächeln, und dann ist es kein Lächeln mehr.

Es war ein Unglück, und dann ist es auch kein Unglück mehr.

Und plötzlich werden wir, wie ein verirrtes Kind, aus der Runde des Sternbildes des Bären herausgeschleudert, wie der Chor in König Ödipus sagt, als ob wir von anderswoher kämen oder von anderswoher fielen.

Von woher fallen wir? Aus dem Schoß welcher Mutter?

Von unzähligen Müttern vielleicht, die diesen Augenblick durch Jahrhunderte und Schmerzen oder andere Lächeln hindurch gewebt haben, die dennoch waren und sich erinnern, gewesen zu sein...

Welches ist dieses Gedächtnis, das wir "Schicksal" nennen?

Was erinnert sich in einem Menschen und erkennt plötzlich wieder?

Unsere Fragen sind mehr wert als alle unsere Antworten. Denn es ist der Augenblick der Frage. Ein Mensch ist eine niemals gelöste Frage, und das ist seine Größe und die Kraft seines Laufs in der Nacht.

Denn wir sind nächtliche Wesen, mit etwas anderem im Leib, das leuchtet und trotz allem brennt.

Das Schicksal ist auf dem Vormarsch

sagt der Chor der Trachinierinnen. Aber es ist immer in Bewegung!

Das Unglück ist auf dem Vormarsch

sagt Antigone seit ihrem ersten Auftritt. Und dieses "Unglück" ist manchmal ein Glück hinter der nächsten Biegung unseres Weges. Was wissen wir schon von Glück und Unglück? In Wahrheit ist es etwas anderes, das auf ein Ziel zugeht.

Sehet ihr Kinder, wie nun das Orakel,
das gottgesandte, sich uns erfüllt,
das uns verkündet in alter Zeit
... [[Sophokles, die Trachinierinnen, F.B. S. 77 ]]

Und genau so führt es ohne Fehl
die Ereignisse zu ihrem Ziel.

So singt der Chor der Trachinierinnen.

Es gibt immer einen Gesang.

Aber der Mensch kämpft in der Nacht, er weiß es nicht. Er hat eine Wahl zu treffen - es gibt immer eine Wahl, bei jedem Schritt auf unserem Weg.

Antigone bereitet sich darauf vor, ihrem Bruder Polyneikes ein Begräbnis zu geben - trotz der Anweisungen des mächtigen Kreon. Sie möchte nicht, daß ihr geliebter Bruder das "Spielzeug von Hunden und die Nahrung der Vögel" bleibt in der Wüste, wo er von allen verlassen wurde. Sie weiß, daß ihre Handlung ihr den Tod einbringen wird. Dennoch fleht ihre Schwester Ismene an ihrer Seite sie an aufzugeben:

O weh! Welch Abenteuer!
Dein Herz entflammt sich
für einen Plan, der es erstarren lassen müßte.

Aber Antigone, so jung, so zerbrechlich, brennt mit einem anderen Feuer.

Nun so muß ich denn
mit eigener Hand und ganz allein vollbringen
dies Werk!
[[Sophokles, Elektra, F.B. S. 235 ]]

Sie wird von Kreon lebendig eingemauert werden.

Und Sophokles widersetzt sich wieder der Entscheidung Elektras, die den Mord an ihrem Vater Agamemnon rächen will, und der Wahl ihrer Schwester Chrysothemis, nahe bei ihr, die sie anfleht aufzugeben, wie Ismene ihre Schwester Antigone anflehte:

Jetzt in der Not zieh' ich die Segel lieber ein ... [[Sophokles, Elektra, S. 230 ]]

Ich rat dir nur, den Mächtigen zu weichen!

Aber Elektra, ganz allein und hartnäckig, trotzt dem drohenden Tod:

Schmeichle ihnen wie es dir beliebt! Ich bin von anderer Art. [[Sophokles, Elektra, s.a. F.B. S. 232 ]]

Seltsamer Ausruf.

Nein, es ist keine "heroische" Prahlerei in der Art von Corneille oder Racine (übrigens borgte Racine mehr von Euripides als von Sophokles), es ist kein "Konflikt zwischen Pflicht und Moral" wie auf den Bühnen der Comédie Française. Sophokles hat eine andere Dimension, die unseren Tragikern fehlt, seine Luft atmet ein anderes spontanes "Natürlich". Als Elektra ausruft: Ich bin von anderer Art! ist es vielleicht das erste Mal, daß sie wahrnimmt, daß sie von anderer Art ist. Dieser Augenblick, wo man nicht mehr so ist "wie gewöhnlich", vibriert wie von sehr weit her. Plötzlich erkennt man, daß man anders ist, als man glaubte oder die Gewohnheit hatte zu glauben - es ist ein anderer SCHREI. Plötzlich entdeckt man, daß man ein Mörder oder inzestuös ist, wie Ödipus, oder man steht ganz allein und nackt vor etwas ..., das sich entzieht. Ein Kind, das seine Augen weit öffnet. Und gleichzeitig erkennt man: "Ah, das ist es!" Wie ein Blitz, und man reißt die Augen auf vor etwas, das von weit her aufsteigt, sehr weit, wie von einem anderen Planeten. Es ist vielleicht ein Lächeln, eine einfache Geste, ein Wort, eine zufällige Begegnung in diesem Uhrwerk des Zufalls, [[Savitri, I.4.54, s.a. H.K. S. 64 ]] wie Sri Aurobindo in Savitri sagt. Oder eine schreckliche Brutalität, wie eine Vergewaltigung. Es kommt von anderswoher.

Wir haben dieses "Anderswo" verloren, wir im 20. Jahrhundert, und es kommt zurück, uns heimzusuchen.

Es gibt kein "Urteil" bei Sophokles, nicht mehr als bei diesen Tausenden von Zuschauern, die in Massen aus der ganzen Stadt mit dem Gefolge des Dionysus kamen - es gibt kein "das ist gut, das ist schlecht". Es gibt nur den Augenblick, wo etwas "anderes" hervorbricht, ein anderes Gesetz, und was der Mensch aus diesem Augenblick macht.

So fordert Antigone den mächtigen Kreon heraus:

Auch glaubte ich, so viel vermöchte kein Befehl
von dir, um ungeschriebne, ewige, göttliche
Gesetze zu überrennen als ein Sterblicher.
Denn nicht von heut und gestern, sondern immerdar
bestehn sie: niemand weiß, woher sie gekommen sind
. [[Sophokles, Antigone, S. 137-138 ]]

Und wieder der Chor in König Ödipus:

Sie liegen in den Höhen,
die Gesetze, die das Ananke leiten,
sie wurden im himmlischen Äther geboren,
und der Olymp ist ihr einziger Vater,
kein Sterblicher brachte sie ans Licht.
Sie läßt Vergessenheit nie,
nie in den Schlaf eingehen
. [[Sophokles, König Ödipus, s.a. S. 196 ]]

Wir sind vergeßlich, und plötzlich erwacht der an Vergeßlichkeit Leidende, und es ist da.

Aber welchem Zweck dient dieser schreckliche oder wunderbare Augenblick? Ist es nicht seltsam und tiefgründig, daß das Wort deina bei den Griechen gleichzeitig "wunderbar" und "schrecklich" bedeutet, als ob es dieselbe Sache wäre? Eine Erinnerung birst, wie eine Mauer, und wir sind darin.

Die süßen und die bitteren, die großartigen und gemeinen Dinge,
die schrecklichen, die schönen und die göttlichen Ereignisse
. [[Savitri, I.4.64, H.K. S. 74 ]]

Doch des Schicksals Gewalt ist
unentrinnbar streng:
ihr kann kein Reichtum und kein Kampf,
kein fester Turm und, meergepeitscht,
kein dunkles Seeschiff sich entziehen
. [[Sophokles, Antigone, S. 152 ]]

singt der Chor der Antigone.

Hier haben wir Aias, den Koloß, den Helden, der Hektor besiegte und der von Athene, der Tochter des Zeus, der Göttin der Weisheit, mit Wahnsinn geschlagen wurde. Aber was ist diese so schreckliche Weisheit?

Denn, Aias, unbändig, ein Riese an Kraft,
er liegt nun, gefällt
vom düstern Sturme des Wahnsinns
. [[Sophokles, Aias, S. 41 ]]

sagt seine gefangene Geliebte, Tekmessa, voller Verzweiflung.

Athene jedoch verfolgt fast grausam diesen stolzen Helden, der sich ein wenig dreist gegenüber den Göttern verhalten hatte:

Ich aber trieb den Mann in seiner Raserei
nur weiter an und stieß ihn ganz ins Todesnetz
. [[Sophokles, Aias, s.a. S. 36 ]]

Man verbleibt mit einer Art stummen Erstaunen, wie die Felsen, die auf das Meer blicken - Athene, die Göttin der Weisheit!

Aber im Gegensatz zur Geschichte läßt Sophokles seinen Helden seinen Verstand wiederfinden. Er will wissen, woran er ist, sagt Tekmessa über den im Delirium liegenden Körper gebeugt. Und Aias nimmt wahr, daß er, anstatt die griechischen Führer zu töten, in seiner rachelustigen Wut ... eine Herde Schafe erwürgte. Er ist lächerlich gemacht, entehrt, vernichtet. Und er stößt den so mysteriösen, so erstaunlichen Schrei aus, der, wir wissen nicht woher hervorbrach:

Dunkel, o du mein Licht. [[Sophokles, Aias, S. 46 ]]

Lange betrachtet er das Meer, während Tekmessa ihn beruhigt, ihn liebkost, ihn retten will. Er murmelt mehr, als daß er spricht:

Die unermeßlich lange Zeit macht offenbar
alles Verborgene und verhüllt, was sichtbar ist.
Es gibt nichts Unausdenkbares
. [[Sophokles, Aias, S. 53 ]]

Selbst der Chor spricht ihm nach:

Wann endlich ist der Jahre Zahl,
Der weithinschweifenden, einst erfüllt
. [[Sophokles, Aias, F.B. S. 681 ]]

Die Entscheidung ist gefaßt. Trotz des Flehens seiner Geliebten wird er sich töten:

Rühmlich zu leben oder rühmlich zu sterben
geziemt dem Edlen. Alles hab ich nun gesagt
. [[Sophokles, s.a. Aias, S. 48 ]]

Und man spürt in Sophokles eine so tiefe und so weite Ergriffenheit vor diesem Unbekannten des Menschen, der, von Wahnsinn befallen, das Meer betrachtet; fast hört man dieses große Mitleid in den Sätzen des Aias, kurz bevor er sich umbringt, ganz allein, angesichts des Meeres, als er seinen jungen Sohn rufen läßt und ihm sagt:

Beneiden aber muß ich dich um eins auch jetzt:
daß du von allen Übeln nichts bemerkst.
Wie süß ist doch das unbewußte Leben,
dem noch verborgen bleibt Freud und Leid
. [[Sophokles, Aias, F.B. S. 23 ]]

Und Aias geht allein. Sophokles hat sogar den Chor zurückgezogen, im Gegensatz zu allen bekannten griechischen Tragödien. Er wird sich dem Meer zugewandt in das Schwert Hektors, seines besiegten Feindes, stürzen - das Symbol seiner Siege wird das Instrument seines Todes.

Als ob eine rote Rose aus seinem Blut entsprossen wäre.

Aber welchen Lichtes Helligkeit ist denn diese "Dunkelheit"?

***

Ein Blinder auf dem Vormarsch

Wenn der junge Sohn von Aias es noch nicht "fühlte", so fühlte Sophokles es überwältigend, aber nicht in der Art von vergeblichem Mitleid, von vergeblichen Tränen über das Elend der Menschen - und alle diese unnützen Opfer. Unnütz? Sophokles verfolgte fast erbarmungslos, als ob er auf der Jagd nach dem Geheimnis wäre, diesen Augenblick des Schicksals, wo der Sinn all dieser Morde, dieser Zwietracht, diese allseitige Misere wie eine dauernde Vergewaltigung unserer Menschheit sein Gesicht offenbart, das schließlich das unsere, wahre ist. Er spitzt die Gegensätze zu, wie um das, was in diesem Leib steckt, besser aufleuchten zu lassen. Und nirgends besser als in König Ödipus, besonders in seinem "zweiten Ödipus", Ödipus auf Kolonos, seiner letzten überlieferten Tragödie, sagt er so einfach, was Einfach ist.

Hier haben wir also Ödipus, arrogant und stolz, aus dem Sophokles "den, der weiß" macht (oida), armes Wissen! Und der im voraus durch das Orakel von Delphi verdammt ist: Er wird seinen Vater töten, seine Mutter heiraten. Er wird der "Schandfleck" sein. Um dem Schicksal zu entrinnen, verläßt er Korinth, verläßt er jene, die er für Vater und Mutter hielt, und macht sich auf den Weg nach Theben. Auf dem Weg tötet er einen unglückseligen Fremden, den er für einen Räuber hält. Aber das Orakel hatte ihm nicht gesagt, daß der König und die Königin von Korinth nicht seine Eltern sind. In Theben angelangt, ist er der siegreiche Held, der die Stadt von der schrecklichen Sphinx befreit, er ist fast ein Gott für alle, und er heiratet die Königin von Theben, Jokaste - die seine Mutter war. Das Orakel stürzt ihn in eben das Schicksal, dem er entfliehen wollte ... Aber das ist nicht alles, selbst vor der Geburt von Ödipus war das Schicksal auf dem Vormarsch, denn das Orakel hatte dem König von Theben, Laios, vorausgesagt, daß ihn sein erster Sohn töten werde - auch er will dem Schicksal entfliehen ... nur um noch tiefer hineinzustürzen - und er setzt seinen ersten Sohn, kaum geboren, in der Wüste aus. Geborgen von Hirten, wird der Säugling Ödipus vom König und der Königin von Korinth adoptiert. Jahre später, auf seiner Flucht aus Korinth, tötet Ödipus einen unglückseligen Fremden, der niemand anders als sein Vater Laios ist.

Alles war schrecklich im voraus gefertigt, und man könnte Cocteaus infernalischer Maschine einige Berechtigung zukommen lassen. Aber Sokrates ist nicht "modern", und der Olymp hat seine Wohnstätte über ihm, wenn er die Große Göttin Erde und die Tänze des Dionysos anbetet.

Ödipus ist nun fest entschlossen, alle diese Orakel und Wahrsager, denen er mißtraut, zu demaskieren, er will beweisen, daß seine wahre Mutter sehr wohl diejenige ist, vor der er geflohen ist, während Jokaste, seine "geliebte Frau", ihm rät, nichts zu suchen. Dunkel ahnend fürchtet sie diese Suche.

Was soll der Mensch wohl fürchten, dem des Zufalls Macht
gebeut, der aber nichts Gewisses vorhersieht?
Am besten ist's, dahinzuleben, wie man kann
. [[Sophokles, König Ödipus, S. 199 ]]

Worauf Ödipus antwortet:

ICH WILL DIE WAHRHEIT WISSEN.

Wie Aias im Sand liegend, Opfer seines Wahnsinns: Er will wissen, woran er ist. Wie Sophokles. Und dem Seher Teiresias, der ihm verkündet:

Da du des Landes frevelnder Beflecker bist! [[Sophokles, König Ödipus, S. 181 ]] antwortet Ödipus:

Deine Angriffe erreichen mich nicht:
In mir lebt die Kraft der Wahrheit.

Aber dieses "Wahre" war nicht so, wie Ödipus glaubte, noch die Seher, nicht einmal Sophokles, denn Sophokles fühlte wohl, daß er das "Wahre" nicht gefunden hatte in seiner ersten Tragödie, in der er Ödipus entehrt und entthront zeigt, und er verfolgt sein Ziel mit derselben Hartnäckigkeit wie Ödipus - es gibt nichts Hartnäckigeres als das Wahre.

Denn es ist das eigentliche Ziel all dieser Unglücksfälle und Schatten und Höllen.

So erkennt denn Ödipus in der ersten Tragödie von Sophokles, daß die Orakel wahr gesprochen hatten:

O Schmach! O Schmach! So wär' es alles klar heraus.
O Licht! Zum letzten Male will ich jetzt dich schaun,
der ich entsproß, wem ich nicht durfte, lebte mit
wem ich nicht durfte und, wen ich nicht sollt', erschlug!
[[Sophokles, König Ödipus, S. 205 ]]

Und er stürzt sich in die Gemächer seiner Frau, findet sie erhängt, reißt die Goldspangen herunter, die ihre Kleider zusammenhielten und sticht sich die Augen aus.

"Der, der weiß" wird in die Finsternis gestürzt.

O Dunkelheit,
du, mein Gewölk, du entsetzlich unsagbar bedrängendes, ach,
das unabwendbar ist, vom Sturm hergeweht!
[[Sophokles, König Ödipus, S. 209 ]]

"Zum Schandfleck" der Stadt geworden, geht Ödipus aus seinem eigenen Land in die Verbannung, der Tyrann Kreon entreißt ihm seine beiden Töchter Antigone und Ismene, und jener Blinde begibt sich auf den Weg, ganz allein. Nicht von Freundeshand geführt.

Er wandert als Bettler auf den Straßen.

Nein, das ist immer noch nicht "das Wahre", das Sophokles suchte, wenn es auch zum Schluß diese wilde Entschlossenheit eines Menschen gibt, der sich ganz allein auf den Weg macht. Selbst diese Schatten sind schon etwas ..., das brennt.

Ohne zu wissen warum, denken wir an Mutter, die große Hauptdarstellerin in Savitri, diesmal aber physisch, die 1973, im Alter von fünfundneunzig Jahren, allein und eingeschlossen in ihrem Zimmer, umgeben von diesen Geiern, halb erblindet, dem Rohling, der sie bewacht, zweimal sagt: Ich will gehen ... Ich will gehen.

Es gibt dieses unbezähmbare Feuer angesichts des Todes.

Vielleicht liegt darin das Geheimnis des Menschen verborgen.

Vielleicht hat das die Macht über den Tod.

***

Die Antwort des Schicksals

Nein, Sophokles hat es noch nicht gefunden, und dieser blinde Bettler, der allein seines Weges geht, konnte nur ein Anfang und kein Ende sein.

Zwanzig Jahre später verfolgt Sophokles in seiner letzten Tragödie, Ödipus auf Kolonos, geschrieben im Alter von fünfundachtzig Jahren, denselben Widerspruch, er verleiht ihm sogar alle Stimmen des Teufels - oder der Weisheit? Wie der Chor singt:

Wer sich längeren Lebens Frist
wünscht und mehr als das Mittelmaß
will, der frönt einer Narretei:
das, wie ich weiß, offenbart zuletzt sich.
Denn viel haben die mancherlei
Tage dann hinterlassen, was
näher steht der Betrübnis; doch
Frohes findest du nirgends mehr,
wenn jemand übers Maß hinaus
weiterschreitet. Aber der Helfer, allen gemeinsam,
Hades, das Schicksal, sobald ohne Festlied
sanglos und klanglos er tritt in Erscheinung,
ist es der Tod: Vollendung
. [[Sophokles, Ödipus auf Kolonos, S. 359 ]]

Der Chor fügt selbst noch diesen letzten kleinen dunklen Akzent hinzu:

Nicht geboren zu sein, das ist das Beste von allem.

Wie ein Keulenhieb.

Kolonos, "das weiße Kolonos", ist der Ort, an dem Sophokles geboren wurde. Es war im Jahr 496 vor unserem Zeitalter, das 5. Jahrhundert vor ... wir wissen nicht genau was, noch weshalb es uns zustand, den Beginn der Zeiten festzulegen. Es war noch das Zeitalter von Buddha drüben an den Gestaden Asiens, und von Sokrates auf den Straßen Athens, und dieser so ergreifenden Heiden. Kolonos ist der Schauplatz des letzten "Ödipus", der fünf Jahre nach Sophokles' Tod aufgeführt wird, im Jahre 401. Dort erscheint der blinde Alte in Kleidern, deren Alter und schrecklicher Schmutz seine Flanken verzehrt. Er fragt:

... in welch Gebiet sind wir gekommen, welcher Männer Stadt?
Wer nimmt, am heutigen Tag, den Wandrer Ödipus
mit kärglichen Geschenken auf in seinem Haus? [[Sophokles, Ödipus auf Kolonos, S. 323 ]]

Er setzt sich auf einen Stein, am Rande eines Wäldchens - es war ein geheiligter Stein, ein Fremder bittet ihn, sofort den Sitz zu verlassen:

Weißt du nicht, daß der ganze Platz heilig ist? Sein Herr ist der erhabene Poseidon, der Gott der Meere. Kolonos ist ein Vorort Athens, am Saume eines Wäldchens, hierhin kommt häufig Dionysos, der Bacchant. Dorthin hatte das Orakel Ödipus geführt, ihm seinen bevorstehenden Tod ankündigend und einen gastfreundlichen Aufenthalt bei den furchtbaren Göttinnen.

Wohlan, ihr holden Töchter der uralten Nacht, ...
mit diesem Schattenbild des Mannes Ödipus
habt Mitleid! Denn dies ist nicht die Gestalt von einst
. [[Sophokles, Ödipus auf Kolonos, S. 326 ]]

So spricht Ödipus selbst, und die Neuigkeit verbreitet sich bis zu Theseus, dem König von Athen, Sohn des Aigeus. Wird er auch von hier vertrieben werden? Er bittet darum, daß sein Grab hier, in dem vorbestimmten Kolonos, bleibe.

O liebster Ägeus-Sohn, allein die Götter sind
vom Alter allezeit verschont und auch vom Tod.
Das übrige zerstört die Allgewalt der Zeit.
Es schwindet Kraft der Erde, schwindet Leibeskraft,
es stirbt die Treue, doch Treulosigkeit gedeiht,
und weder zwischen Männern, die befreundet sind,
weht stets derselbe Geist noch zwischen Stadt und Stadt.
... die zahllose Zeit wird
in ihrem Gang zahllose Tag' und Nächte doch
gebären, da die innigste Verbundenheit
aus kleinem Anlaß durch den Speer zerrissen wird
. [[Sophokles, Ödipus auf Kolonos, S. 341 ]]

Aber Theseus empfängt ihn wie einen Helden, selbst die Götter hatten vorausgesagt, daß man ihn überall suchen würde und daß sein Grab Athen zum Heil gereichen werde.

Ödipus ist bestürzt: Ich, eine Jammergestalt!

Genau da stößt er jenen Schrei aus, jenen anderen Schrei, wie die Antwort des Schicksals:

Erst wenn ich nichts mehr bin, werd ich wahrhaft ein Mensch? [[Sophokles, Ödipus auf Kolonos, s.a. S. 334 ]]

Nie hallte je ein mächtigerer Schrei durch die Tragödien der Erde.

Wir gehen wie Blinde, wir tasten uns in unserem Unglück voran und beklagen uns über unser Schicksal, und wir sind irgend jemand, Peter oder Paul, der irgendwohin geht, inmitten Millionen kleiner Dinge so ähnlich denen jenes anderen Vorübergehenden, inmitten kleiner Ziele, die von nirgendwo sind. Waren wir nicht Millionen Male ein Nichts, Millionen Schritte, die unzählige Nächte von früher in den Staub treten, unter dieser oder jener Bekleidung, mit kleinen Begierden so ähnlich den gestrigen, und sinnlosen Toten und so alten Schmerzen, daß sie wie der Morast der Erde erscheinen. Und was ist darin, welcher Mensch endlich, welche Minute, die zählt?

Es ist die Stunde des Schicksals. Das Schweigen vor etwas, das klaffend dasteht. Der Augenblick, der brennt, als ob man nur dafür gebrannt hätte. Millionen Sekunden für diesen Menschen, der sich plötzlich ansieht, als ob er nie gewesen wäre. Eine erste Sekunde, die pocht, als ob man allein für dieses Pochen gelebt hätte. Es brennt. Und es ist ... für immer. Es liebt - man weiß nicht was, aber es ist wie eine uralte Liebe für diese Nacht oder für diesen Tag, für niemanden und für alles, als hätte es immer nur diese Liebe am Grunde von allem gegeben. Es ist zu Ende, und es beginnt. Man wird sterben, und es gibt den Tod nicht mehr. Man wußte nichts, und man weiß - was? Das Schweigen, dieses Schweigen hier, das für immer durch die Universen hallt.

Ödipus folgt seinem Schicksal, er geht an dem heiligen Wäldchen vorbei zu dem vom Orakel bestimmten Krater: "die eherne Schwelle". Nur Theseus folgt ihm von weitem, Ödipus will nicht, daß seine Töchter ihn begleiten. Er tat die schmutzigen Kleider ab. [[Sophokles, Ödipus auf Kolonos, S. 370 ]] Und er wird noch einen anderen Schrei ausstoßen, so erschütternd, wie ihn nur Sophokles oder Sri Aurobindo fühlen können:

Kommt diesen - hierher - diesen Weg! Denn diesen führt
Geleiter Hermes und die Göttin drunten mich.
Licht, unsichtbares, ehemals warst du auch mein
... [[Sophokles, Ödipus auf Kolonos, S. 369 ]]

Aus der Entfernung beschreibt der Bote den Töchtern Ödipus' die Szene, die niemand sehen darf:

Da donnerte der Herr der Unterwelt ... [[Sophokles, Ödipus auf Kolonos, S. 370 ]]
Doch als wir aus der Ferne bald darauf
die Blicke wandten, sahen wir genau,
daß Ödipus nicht mehr zugegen war.
Und daß der König seine Hand als Schild
vors Auge hielt, als hätte schaudernd er
ein unerhörtes Bild vor sich erblickt.
Nach einer kleinen Weile sah man ihn
sich bis zum Boden neigen und zugleich
zum Göttersitz erheben sein Gebet.
Doch welches Ende jener Alte nahm,
das weiß wohl keiner außer Theseus selbst;
denn weder hat ihn Blitzstrahl eines Gotts
hinweggerrafft noch Wirbelsturm, der sich
vom Meer erhob in jenem Augenblick.
Ein Götterbote war's, die Erde tat
sich auf und nahm ihn sanft in ihren Schoß
. [[Sophokles, Ödipus auf Kolonos, F.B. S. 368 ]]

"Hier hört die Geschichte endgültig auf."

Ödipus verschwindet in vollem Glanz.

***

Die finstere Gruft

Das Schicksal bearbeitet uns wieder und wieder, und manchmal - selten - hört ein Menschenkind seine Antwort, aber "diese finstere Gruft" bleibt bestehen, offen, die "eherne Schwelle", niemals von einem Lebenden überschritten. Und die Göttin der Weisheit, Athene, die Tochter des Zeus, verfolgt uns fast unerbittlich.

Sollte diese Weisheit denn kein anderes Ziel haben, als uns diesen Schrei zu entlocken, worauf es zu Ende ist, man verschwindet, um wieder und wieder zurückzukommen in der Verfolgung dieses mysteriösen Ziels? Ist dies also das Ende der Geschichte, unserer Geschichte?

Und Sophokles öffnet die Augen weit auf diese erregten Generationen der Menschen, er spricht von ihren Schreien, ihren Missetaten, die sich so oft in Wohltaten verwandeln, ihrer Unwissenheit vor dem nächsten Schritt auf ihrem Weg, ihren Zärtlichkeiten und ihren Schwächen, und ihrem ständigen Tod - ihrer Ohnmacht. Aber niemals zweifelt er, niemals lehnt er sich auf - Denn es gefiel den Göttern so [[Sophokles, Ödipus auf Kolonos, S. 352 ]] , sagt Ödipus - er betrachtet den Ozean der Zeit:

Ja, die unermeßlich lange Zeit,
unerschöpflich, erbarmungslos,
die Zeit stürzt alle Dinge um.
Sie entschleiert, was verborgen blieb,
sie verbirgt, was sichtbar war,
sie läßt das Unmögliche möglich werden.
Sie erschüttert das Unerschütterliche.

Und Sophokles betrachtet dieses ferne "Unmögliche", das vielleicht möglich wird, diese "finstere Gruft", die vielleicht erschüttert wird - diesen Olymp, der nicht alle seine Geheimnisse preisgegeben hat, das Ziel nicht entschleiert hat, jedenfalls noch nicht. Er glaubt an diese mysteriöse Antriebskraft, die den Menschen bewegt und ihm mal Schandtaten, mal Heldentaten entreißt, die wie von "einer anderen Art kommen" - und diese Schandtaten und die blutigen Nächte wurden vielleicht von der Großen Göttin vorangetrieben, um einen anderen Schrei aus unserem Geschlecht ertönen zu lassen, einen anderen Tag. Sophokles stellt in Frage. Vor der Zeit ist er vielleicht der Held - oder der Herold - eines anderen Zeitalters. Sein strahlendes Denken, umschattet von Schmerz und Mitleid und schrecklichen Fragen, ist schon ein Anruf, ein Schrei, fast ein Flehen an das, was dort auf dem Grunde der Zeit harrt, hinter den schwarzen Stürmen und den zugemauerten Horizonten - o Mensch, wohin gehst du?

Vieles ist wunderbar, nichts
ist wunderbarer als der Mensch.

singt der Chor von Antigone.

Das durchfährt auch die fahle Flut
in des reißenden Südsturms Not;
das gleitet zwischen den Wogen,
die rings sich türmen! Erde selbst,
die allerhehrste Gottheit,
ewig und nimmer ermüdend, er schwächt sie noch ...
Völker der Vögel, frohgesinnt,
fängt in Garnen er, rafft hinweg
auch des wilden Getiers Geschlecht,
ja, die Brut der salzigen See
in eng geflochtenen Netzen,
der klug bedachte Mann.
Und Rede und, rasch wie der Wind,
das Denken erlernt' er, den Trieb
die Staaten zu ordnen
... [[Sophokles, Antigone, s.a. S. 134 ]]

Und immer diese Frage tief in Sophokles:

Allbewandert, in nichts unbewandert, schreitet er
ins Künft'ge; vorm Tod allein
sinnt er niemals Zuflucht aus
... [[Sophokles, Antigone, s.a. S. 135 ]]

Dann fügt er hinzu, nach einem dieser Schweigen, die man stets hinter den Worten von Sophokles spürt, als ob sein Gesang von weit her käme:

Mit kluger Geschicklichkeit für
die Kunst reichlich begabt,
kommt heut er auf Schlimmes, auf Edles morgen
. [[Sophokles, Antigone, S. 135 ]]

Bei Sophokles weiß man nie, ob dieser Weg des Übels nicht ein unerwartetes Gutes verbirgt, wie die zarte Morgenröte hinter dem schwarzen Horizont. Er hofft, immer hofft er - er wartet.

Mit einem plötzlichen Sprung können wir in ein anderes Zeitalter gelangen, fünfundzwanzig Jahrhunderte nach Sophokles, als sich die Kinder Wotans, wie Sri Aurobindo sagt, mit ihren schwarzen Ungeheuern über Europa ergossen. Die Zeit von Auschwitz und Buchenwald. Und wir wagen es, den "Widerspruch" von Sophokles zu verschärfen, in die Augen dieser Verbissenheit von Athene zu blicken, die den Menschen auf den Grund des Todesnetzes stößt - diesmal noch grausamer -, es ist eine andere Art der Tragödie oder immer noch dieselbe hinter einer anderen Maske.

(Auszug aus einem anonymen Bericht)

In einer Zelle in Fresnes,

Hunderte von Zellen,

aufeinander gestapelt.

Jeden Abend dieses tödliche Ritual:

Von einer unteren Zelle stieg eine Stimme auf, die durch die Fensterluken rief: "Salut, Kameraden. Morgen hängt man mich. Ich heiße Antoine ... Auf Wiedersehen, Kameraden." Aus allen Zellen schlug jeder mit seinem Löffel auf das Rohr des Waschbeckens, und alle die Leitungsrohre hallten zusammen, Hunderte von Eisenrohren ließen den Chor der Toten erklingen. Auf dem Flur brüllte ein SS-Mann Flüche. Manchmal gab ein Kamerad seine Adresse an:

"Sagt meiner Mutter ..."

Und das ist dann alles.

Salut, Kameraden.

Dann das Schweigen, wie jenes, das Ödipus fünfundzwanzig Jahrhunderte früher ergriffen hatte. Hunderte von Schweigen in der Nacht - was hören sie? Hunderte von Herzen, wie angehalten, die wie zum ersten Mal das Mysterium hören, die mit einem nie gekannten Feuer brennen, die wie ein erster Mensch blicken, wie ein Unbekannter, der sich wiedererkennt, der nichts mehr weiß und dennoch unermeßlich alle diese Jahrhunderte in diesem Termitenhaufen der zum Tode Verurteilten kennt.

Ist das schon das Ende? Soll dies etwa das Leben sein?

Ein Augenblick, der eine weiße Markierung auf einer Seite läßt, wo es so viele Dinge gab, die nichts waren. Dann ist es heiß, es brennt so intensiv in diesem Nichts. Es ist, als ob es für die Ewigkeit wäre. Ja, "sagt meiner Mutter ..." Es gab diese Mutter so vieler Male, die uns aus ihrem Schoß fallen ließ, hier oder da - wozu?

Und dieses "Wozu" ist wie ein Feuer.

Es brennt, es tut weh, es hat nichts zu bedeuten.

Und dennoch ist es alles - aber ein so volles, so warmes Alles, wie die Mutter aller dieser Welten und aller dieser Schmerzen selbst.

Diese Mutter hätte uns doch wohl nicht auf diese Erde geworfen, um im Morgengrauen in ein Massengrab gekippt zu werden? Und alle Olympe der Welt werden uns niemals trösten. Dennoch ... dennoch. Sie macht uns immer dieses Geschenk - geheimnisvoll - dieses Feuer, das wie eine versunkene Liebe ist, eine ewige Liebe. Wir sind vielleicht noch sehr jung auf der Welt. Wie diese große Weite, die Sophokles in der Ferne betrachtete, wartet diese Mutter vielleicht hinter dem schwarzen Horizont, auf daß wir das wahrnehmen, was im Herzen eines Menschen brennt, damit wir endlich Mensch werden und über unsere erfinderische Barbarei hinausgelangen. Sie wartet ... Sie wartet, dieses Mal oder andere Male, auf daß wir den wahren Augenblick erreichen, wo der Mensch auf seine nackten Urbedürfnisse zurückgeschleudert [[Savitri, I.2.11, H.K. S. 21 ]] wird, wie Savitri sagt. Es ist immer ein Feuer - schwarz oder rot wie das Blut des Heldentums, es wirft sich in alle Leidenschaften und in das ersterbende Lächeln, in die glücklichen Stunden, die wehtun, und die Triumphe, die zunichte werden, und das Wissen, unendlich viel Wissen, das nichts weiß, außer diesem Moment, wo "es" alles weiß, ohne ein Wort, wo "es" brennt. Dann ist es ein anderes Feuer, und trotzdem immer noch dasselbe, das seine Schwärze verliert und seine wechselnden Farben und sein Stammeln eines wilden Kindes. Es ist purpur wie die Blüte des Granatapfelbaumes. Es ist "das Unsterbliche im Menschen", sagt Sri Aurobindo. Es ist das, was alles vermag, selbst über den Tod.

Es ist das Geschenk der Urmutter all dieser Zeitalter. Nicht für den Tod hat Sie uns hierher geworfen, er ist nur der Hebel und das versunkene Geheimnis in dieser "finsteren Gruft" - man muß nicht mehr sterben und braucht keine Höllen mehr, um das Leben plötzlich wahrzunehmen, wie eine unerwartete Morgenröte, zart und mütterlich im Schoße unserer Nacht.

Denn das erste Geheimnis des Todes ist dieses Feuer, das Hervorsprudeln von etwas Anderem.

Wir haben Hebel, aber wir müssen wahrnehmen, daß wir sie haben, und man muß lernen, sich ihrer zu bedienen. Wir sind noch sehr jung in diesen schrecklichen Spielen der Welt.

Die Zeit der lebenden Toten wird beendet sein.

Und Sophokles wird seine Augen noch einmal öffnen, um die Phantome einer alten Welt unter einer großen weißen Welle rollen zu sehen:

O Gottheiten der Höllen! O unbesiegte Monster. [[Sophokles, Ödipus auf Kolonos ]]

Und das Schicksal bloßgelegt wie kleine Muscheln auf einem neuen Strand.

Aber bei Zeus, seinen Thron teilend,
wohnt das Mitleid
für jede menschliche Handlung

Sophokles, Ödipus auf Kolonos

III

Die Wende eines Zeitalters

Als Sophokles uns im Jahre 406 vor unserer Zeit verläßt, ist die Welt betrübt. Wir sind verarmt. Sieben Jahre nach ihm, im Jahre 399, wird Sokrates zum Tode verurteilt.

Wenn wir Sophokles hören, möchten wir Dichter oder Musiker sein, so sehr fließt seine Stimme und entfernt sich ins Unendliche, um geheimniserfüllt zu uns zurückzukehren, wie eine weite Brandung, an der wir entlangwandern mit unseren Schmerzen, unserer niemals gestillten Sehnsucht ...

Etwas, das wartet, etwas, das wandert und das nie ruht,
ein Nichts, das Alles war
[["In Horis Aeternum", Collected Poems, 5:577 ]]

sagt Sri Aurobindo am anderen Ende dieser langen Jahrhunderte.

Er sucht durch den von Flammen durchzuckten Halb-Schatten
nach einer halberkannten, verhüllten, stets verfehlten Wirklichkeit ... [[Savitri, I.3.24, H.K. S. 34 ]]

Ein altes, müdes, unerfülltes Sehnen. [[Savitri, I.1.2, H.K. S. 12 ]]

Und Sophokles, wie Sri Aurobindo, trägt diese Musik unseres vagabundierenden Traumes, unserer Menschheit mit einem Loch im Herzen - doch dieser Schmerz des Seins schmilzt ins Weite, in etwas anderes, das singt, wie die Chöre, wie Dionysos, dieser verehrte Gott, der das Anderswo bedeutet und das Andere bezeichnet. Aber das Mysterium von Sophokles ist niemals anzuhalten. Seine dunkelsten Rufe verbergen immer einen Anruf, wollen das anrufen, was das Gegensätzlichste zu diesem schwarzen Loch ist, seine Helden sind keine "Opfer" eines "ungerechten" Geschicks, sie kämpfen mit ihrem eigenen Herzen und ziehen ihre eigene Kraft aus dem, was am stärksten im Gegensatz zu ihren Grenzen steht; das "Nichts", das König Ödipus diesen "armen menschlichen Generationen" verheißen sieht, ist noch eine weitere Herausforderung - und seid ihr wirklich dazu bestimmt? Werdet ihr eure Nacht abschütteln oder mit ihr untergehen, wie ein Schiff bei der Abfahrt ins Nirgendwo? Selbst Antigone, angesichts des Scheusals, das sie lebendig einmauern will: Ich bin in deiner Hand, sagt sie, willst du noch mehr als meinen Tod? - Das nicht, antwortet Kreon, dein Tod genügt mir vollauf ... Und sie sagt so schlicht, ohne einen Schrei, ohne Protest, wie man nicht den Tod sondern das, was am Ende von allem übrig bleibt, betrachtet:

Zu lieben, nicht zu hassen, bin ich geboren.

Eine göttliche Antwort.

Und in dem Unglücklichsten, dem Nächtlichsten ist es wieder das Gegensätzlichste, das Sophokles aufruft, es ist immer der Sonnen-Mensch und die Freude, die er hervorrufen will - denn Sophokles ist ein Provokateur, er sucht kein eitles Reden, kein Gejammer, er sucht, was ist:

... Lassen Glück und Lust
das Leben eines Manns im Stich, der, sag' ich,
lebt nicht mehr: zwar noch beseelt, erscheint er mir wie tot
[[Sophokles, Antigone, S. 158 ]]

sagt der Bote in Antigone.

Und Sophokles ist ein Bote dieses sonnigen Zeitalters im 5. Jahrhundert vor ..., das sich anschickt, später eine andere Wende zu nehmen. O Mensch, wo steuerst du hin, scheint Sophokles zu sagen, wo ist deine Freude? Worauf zielt deine Freude und deine Liebe? ...

Als einzige Antwort rauscht eine alte Brandung am Rande einer Küste, die so schwarz erscheint, während wir mit diesem alten "niemals versiegenden Bedürfnis" weiterwandern.

***

Die Maske fällt

Selten können wir in der Geschichte die Augenblicke so genau festhalten. Sophokles geht dahin, und zwei Jahre später, im Jahre 404, kommt es zum politischen Untergang Athens, das vor Sparta kapituliert, das Ende des peloponnesischen Krieges, des Bruderkrieges der griechischen Städte, dann der Despoten, dann der so unerklärliche Tod des Sokrates - wie die Ermordung eines Zeitalters. Etwas wendete sich schon im Bewußtsein des noch nicht geborenen Westens. Denn es gibt eine Bestimmung in den Nationen wie in den Individuen, in den Zeitaltern wie in unseren Sekunden, und schließlich ist es immer das Wesen "Erde" auf dem Vormarsch zu ... seinem ZIEL.

Unsere Widersprüche sind ein Hebel - dessen man sich bedient, oder nicht.

Die politischen Wirren eines Landes, eines Zeitalters, sind eine Maske, hinter der sich mächtige Kräfte bewegen oder sich bekämpfen. Es ist ein großes Spiel, ein schreckliches Spiel, wo nur der MENSCH, die Wirklichkeit des MENSCHEN in Frage steht und sich allmählich krampfhaft aus dem Leib der alten SCHATTEN befreit, aus denen er hervorgegangen war. Nicht der Ruin Athens zeigt die Änderung der Windrichtung an, auch nicht die alten Despoten, die niemals fehlten, sondern ein subtilerer Atem, der die griechische Tragödie ergriff und sie vollendet: nennen wir es das Phänomen Euripides.

Es ist in der Tat ein Phänomen, denn nur sechzehn Lebensjahre trennen Euripides von Sophokles, seinem Zeitgenossen. Aber während Sophokles die Götter immer ruhig betrachtet, zieht Euripides sie in Zweifel: Ammenmärchen, sagt er in Bellerophon. Er klagt an, protestiert, verdammt. Schon gibt es "Schuld" und Richter. Er droht mit Argumenten, und es ist ein "Für" und "Wider", das unaufhörliche Spiel des Mentals beginnt. Daß ich doch meine Arme, meine Hände, meine Haare, meine Füße sprechen lassen könnte! schreit die gewalttätige Hekuba in ihrem Zorn. Schon läßt die Tragödie die Maske fallen, hinter der andere Stimmen atmeten, und der kleine Alltagsmensch kommt zum Vorschein: ich, die Person ... die natürlich nicht weiß und "Unrecht" und "Gründe" sucht, das "Weiße" oder das "Schwarze" - sehr bald wird man einen gerichtlich erhängen oder religiös verbrennen. Man ist Pazifist oder Patriot oder Verliebter und Redner und Aktivist - eines Vaterlandes, das nicht mehr das der Götter ist, eines "Anderswo", das über einen kam und allein regieren will. Ruhig ließ Sophokles den Seher Teiresias hinter seiner Maske sprechen:

Dies nun, mein Sohn, bedenke! Denn den Menschen ist
gemeinsam allen, daß sie manchmal irregehn
. [[Sophokles, Antigone, S. 154 ]]

Es war einfach. Aber der "Irrtum", ohne diese Maske und ohne dieses "Anderswo", das alles durch unsere Nächte führt, um uns zu dem werden zu lassen, was wir noch nicht sind, wird zur Sünde, wird zur Tugend, wird zu den tausend Gesichtern unseres zweideutigen und notwendigen Gefängnisses -, denn wir sind ein kleiner, abgetrennter Alltagsbürger, der "Meister" sucht und "Gebote Gottes", die ihm sagen sollen, was er nicht mehr weiß. Ach! könntest du mir nicht die Worte sagen, die ich sagen soll? fragt Phädra. Schon das Gefolge des Dionysos ist nicht mehr das gleiche, als die glückliche Menge den Gott aus dem Heiligtum herausholt, um ihn auf seinem Altar im Zentrum des Orchestra zu inthronisieren, während die Chorsänger einherwandeln und psalmodieren. Schon zerreißen sich die Leidenschaften zwischen einem "Du" und einem "Ich". Ein Schatten fiel auf die Ufer von Attika und schon bald auf unseren ganzen Kontinent. Es ist das Zeitalter der ersten Sophisten in Athen und der Rhetoriker: man verkündet, was sich selbst nicht mehr weiß, in der Unruhe des "Ja" und "Nein" und des "Ich-will" und "Ich-tue" - und dieses unglückliche "Ich" betritt die Szene. Bald wird Aristoteles mit gefalteter Stirn kommen, mit seinen Schülern, die unter den Säulengängen des Lyzeums im Kreise liefen, es ist das Zeitalter der Peripatetiker, wie das griechische Wort so gut sagt: diejenigen, die darumherumgehen. Wir sind um alles herumgegangen, selbst um den Mond oder auf dem Mond, um die Erde und nirgendwo, um unseren alten, niemals getilgten Schmerz, unser niemals gefundenes Geheimnis.

Schon Platon träumte davon, anderswo eine "ideale Stadt" zu gründen - aber wer kann sagen, wo dieses Anderswo liegt?

***

Und die langen Zeitalter

Seit dem Tod dieser Großen unter uns schauen wir zu. Diese lange Folge von ruhelosen Jahrhunderten, würde Aias sagen. Aber es gab andere Große davor, andere unter dem Sand verschwundene Städte und andere vergessene Missetaten. Dann kommen neue Reiche und neue wiederkehrende Missetaten. Man betrachtet die große Mutter-Göttin, die ihre Kinder formt, wie sie ihre Reiche und ihre Tempel formt und sie dann zerstört. Zu welchem Zweck? Werden wir jemals Menschen sein? Der Körper wächst, seine Krankheiten, seine Schmerzen, seine Begeisterungen, die für einen Moment aufflammen, und die Kinder und die Städte vermehren sich. Auch die Nationen, die sich streiten, wie die griechischen Brüder - man wird niemals erwachsen, scheint es, oder es geschieht nur, um immer dasselbe unter der einen oder anderen Verkleidung zu finden. Die Maske ist gefallen, aber es gibt eine andere Verkleidung, pompös und ruhmreich, und immer unzweifelhafter, denn sie regiert unter dem Banner der Religion oder bald der Wissenschaft. Und wir wissen alles, und wir sind untröstlich wie ein nacktes und gestern geborenes Kind. Am Strande derselben Brandung tragen wir dasselbe Nichts oder dasselbe Etwas, das lauscht und lauscht und nicht mehr weiß, und diese unbekannten Schritte vor uns, und die verwischten Schritte hinter uns - wie die Königreiche dort unten, unter dem Sand, und andere verschwundene Kinder ... auch sie lauschten, ja, dieser brennenden Frage, dieser gleichen Frage im Herzen der kleinen Menschen angesichts des großen Meeres, einer großen Weite des Schnees oder der Nacht, die ihr Geheimnis vielleicht verbirgt. Und diese brennende Frage, ganz allein und ohne Antwort, ist vielleicht unser eigentliches Geheimnis. Die Große Göttin entfacht vielleicht ein Feuer, läßt einen Schrei hervordringen durch alle unsere immer wieder begonnenen Verheerungen, wie der alte Aias im Sande liegend, Beute seines Wahnsinns - sind wir nicht im Begriff, ein Homo demens anstatt ein Homo sapiens zu werden? Oder wie der Schrei der Antigone vor ihrer Mauer, vor dem Scheusal - es gibt so viele Rohlinge, hier und dort, und mehr und mehr Mauern. Und dennoch diese Liebe in der Tiefe, die nicht aufhört zu pochen, zu brennen, als ob sich alle Jahrhunderte dort versammelten, und alle nackten Kinder, als ob sie schon immer gewesen wären.

Man schaut. Man kann über Jahrhunderte hinwegspringen wie über die weißen oder schwarzen Steine des Mühlespiels. Wir halten uns für erwachsen in unseren Ländern des Westens oder des Ostens. Wir haben so viele Wissenschaften und so viele Götter, die nicht mehr heidnisch sind. Aber wir fühlen wohl, trotz allem, daß sich etwas überstürzt und daß die Jahrhunderte dabei sind, sich zusammenzudrängen, sich zu sammeln und sich zu komprimieren wie die Atome in einem dunklen Leib - für welche Geburt oder welche weitere Zerstörung? Man könnte meinen, Athene hinter unseren tausend elektronischen Babeln zu vernehmen:

Ich aber trieb den Mann in seiner Raserei
nur weiter an und stieß ihn ganz ins Todesnetz
. [[Sophokles, Aias, s.a. S. 36 ]]

Werden wir bald diesen SCHREI hören: Dunkel, o du mein Licht! [[Sophokles, Aias, S. 46 ]] Oder verwüstet und nackt auf unserem faulen Strohbett aufschrekken wie Ödipus:

Wenn ich also nichts mehr bin, werde ich wirklich Mensch! [[Sophokles, Ödipus auf Kolonos ]]

Die Urmutter der Zeit formt ihr Kind auf brutale Weise, aber nicht um es oder all diese Jahrhunderte noch einmal sterben zu lassen für einen weiteren Sohn Wotans oder Allahs.

Steh auf, o Seele, und besiege Zeit und Tod. [[Savitri, VII, 2.474, H.K. S. 488 ]]

IV

Das göttliche Paradox

Über die Gräber hinaus, und die Jahrhunderte, so viele Jahrhunderte, in denen

... die zahllose Zeit
in ihrem Gang zahllose Tag' und Nächte doch
gebären wird
... [[Sophokles, Ödipus auf Kolonos, S. 341 ]]

Was? Fast hört man die große Woge, die Sophokles war, sich mit dem großen Rhythmus, der Sri Aurobindo war, verbinden, so wie der Chor sich mit dem Schauspieler verbindet, wie das Ende seinen Beginn wiederfindet, wie ihre Fragen und ihr Blick sich vermischen.

O Kraft-bezwungene, Schicksals-getriebene, erdgeborene
Menschenrasse,
ihr winzig kleinen Abenteurer in der grenzenlosen Welt,
Gefangene in einem zwergenhaften Menschenwesen,
wie lange wollt ihr noch die Gleise des Mentals ablaufen,
um euer kleines Ich und die kleinlichen Dinge kreisen?
Ihr wart doch nicht für eine wandellose Winzigkeit bestimmt
und nicht gebaut für die fruchtlose Wiederholung.
Zu raschen Schritten einer Offenbarung können eure Taten werden
und euer Leben zu der wandelbaren Prägeform wachsender Götter.
Ein Seher und ein starker Schöpfer ist in euerm Innern,
makellose Erhabenheit sinnt über euern Tagen,
allmächtige Gewalten sind in den Zellen der Natur vorhanden.
Es wartet eine größere Bestimmung vorn auf euch.
Euch, die der Erde hohe Umwandlung vollziehen, ist es gegeben,
die höchst bedrohlichen Bereiche eurer Seele zu durchqueren
und dort die mächtige und hell-erwachte Mutter zu berühren
und den Allmächtigen in dessen Haus von Fleisch zu treffen
und aus dem Leben jenen Einen, der Millionen Körper hat,

zu machen. [[Savitri, VII.3.370., H.K. S. 384. ]]

So sprach der König in Savitri.

Man könnte meinen, einen letzten Chor von Sophokles zu hören, der vom Ägäischen Meer bis zur Bucht von Bengalen hinüberklingt.

Sie kannten sich gut.

Kaum sieben Jahre alt, reiste Sri Aurobindo nach England, um seine Studien zu betreiben, geführt von seinem Vater, dann traf er als Halbwüchsiger in Cambridge ein, wo er Homer, Äschylus, Sophokles im griechischen Original las ... noch bevor er seine Muttersprache, das Bengali, kannte. Auch las er Vergil im Original und sprach ein "sehr gutes Französisch", wie Mutter uns sagte. Diese Griechen weckten oder erweckten wieder ein altes Mysterium in seinem Herzen. Wie nicht dieses alte Murmeln wiederfinden, das mit uns an vielen vergessenen Flußufern gelitten hat, und plötzlich dort wiedergefunden wurde, wie seit Anbeginn der Zeiten? Man meint, in diesem Augenblick die gesamte Menschheit zu sein. Und wie sollte dieser einsame und arme Jüngling an den Kais von London nicht überall diese alte Misere sehen! Die Geschichte hört hier endgültig auf. - Wirklich?

Es war die Zeit der Wissenschaft und des triumphierenden Materialismus.

Es war die Zeit Darwins. Wie soll man sich einen Samen vorstellen, der nicht den Baum enthält? - Der Mensch? Wirklich?

Im Alter von zwanzig kehrt er 1893 nach Indien zurück, wo er vom plötzlichen Tod seines Vaters erfährt. Nein, er war kein "Philosoph" - niemals, niemals, niemals! wird er dreimal ausrufen, obwohl er viel Philosophie schreiben mußte, um sich in unserem mentalen Zeitalter verständlich zu machen. Er war Dichter, er war Seher, er war vorauswissend. Er beginnt in Indien einzudringen, in dieses andere Mysterium, um mit Augen zu betrachten, die älter waren als die des Sophokles, als ob der Ältere aus dem Urgrund der Zeitalter sich mit der Zukunft verbände, unserer Zukunft, als ob diese Zukunft schon immer dagewesen wäre auf dem Grunde des Himalaya, auf dem Grunde einer anderen Zeit, die sich langsam über unsere Jahrhunderte und unsere immer so gleichen Geschichten hin erstreckte, da und dort.

Und die Offenbarungen ergießen sich über ihn wie der Blitz, niemand weiß wie, in diesem schweigenden Herzen von zweiundzwanzig Jahren:

Ich empfing das Gesetz
das Wahre, das Weite,
von dem wir kamen und das wir sind.
Ich hörte die Zeitalter vorüberziehen
ihre Geschichte murmeln
und ich erkannte das Wort
... [["The Rishi", Collected Poems, 5:303, dt. von P.St. ]]

So spricht Sri Aurobindo in einem seiner ältesten indischen Gedichte. Schon beginnt er die ersten Entwürfe von Savitri, diesem gewaltigen Epos von 23 813 Versen, das er wieder und wieder korrigieren und ohne Unterlaß erweitern wird, in dem Maße, wie sein Forschen ins Unbekannte vordrang, in die Tiefe des Körpers, bis zum letzten Monat seines Lebens, im Jahre 1950, als er Das Buch des Schicksals überarbeitete: zwölf Bücher in neunundvierzig Gesänge unterteilt ... Das Epos vom Sieg über den Tod [[Mutters Agenda, Bd. VII, 19.8.66, S. 173 ]] , sagte Mutter, als sie ganz allein in ihrem Körper einen Weg bahnen mußte durch die schattige Gruft der Erde der Toten.

Dieses Durchqueren ... des Todes, der das Geheimnis unserer Zukunft birgt.

Dann erst öffnen Hüter der Seligkeit
das goldene Tor uns.
Das ist die Heimat, die heimliche Hoffnung ist's
unserer Herzen.
Zu bringen jene Himmel zur Erde herab
kommen wir alle,
und Splitter davon in hiesiger Menschgeburt
stehn uns zu Gebote.
Such ihn auf Erden,
denn du bist Er, o König. Die Nacht liegt nur
durch deinen Willen
dir auf der Seele. Deck auf was wahrhaft du bist:
das heitre Ganze
. [["The Rishi", Collected Poems, 5:310-312, P.St. S. 218-219 ]]

Und dieses Herz von zweiundzwanzig Jahren wuchs, erforschte - hörte die Stimme der Zukunft. Dann, im Jahre 1900, bei der Jahrhundertwende, als der Materialismus seinen monströsen Rumpf aufblähte, wird die Offenbarung vollständiger:

Der Tag wird kommen, den oft man geweissagt hat,
des Johannes Offenbarung, Shelleys Träume ...
Zuende ist des Eisens Zeitalter. Nur
der Vergangenheit letzte grimmige Todeskrämpfe
erschüttern die Völker noch: sind aus diese Kämpfe,
hebt Erde ihr Antlitz, rein von der Übel Spur ...
... der Äon des Eisens
bereitet vor den Goldnen. Wir nennen Sünden
des Menschen Überholtes, wenn aus den Gründen
der innre Führer ihn weist auf der Pilgerreise.
Er läßt mit Kampf und Schmerzen zurück das Schlechte,
weil haftet und wiederkehrt was lang ihn kennt
und im Feuer seines Leidens heftig brennt,
mehr Süße zu verdienen, mehr Stärke, echte.
Er steigt dem Guten zu auf Titanenschwingen:
das ist der Grund für sein hohes Unbehagen,
er kam aus Unendlichkeiten etwas zu wagen,
unsterblich aufzubaun mit sterblichen Dingen,
den Leib mit wachsender Seele zu erfüllen,
des Himmels Anspruch auszudehnen auf Erden,
vom Tod zu steigen gen göttlicheres Werden
. [["In the Moonlight", Collected Poems, 5:61, P.St. S. 226 ]]

Das war der Beginn. Und dieser junge Sri Aurobindo, der im Jahre 1900 achtundzwanzig war, wird das Mittel suchen, eines Hebels Zauberkraft [[Savitri, I.2.20, H.K. S. 30 ]] , wie Savitri sagt, und fünfzig Jahre lang in seinem eigenen Körper graben, um den Grund unserer Abgründe zu finden, das Ende unserer Nacht, das goldene Tor auf der anderen Seite unseres Todes. Denn er war gekommen, um zu TUN, was Sophokles in seinen Helden erträumte, die stets vernichtet wurden und unablässig an die Tür der Bestimmung schlugen, damit ein anderer Schrei hervorbreche.

Aber dieses Mal muß die Erde schreien.

Oder für immer sterben.

***

Der Revolutionär

Sri Aurobindo ist ein Geheimnis. Man wird vielleicht lange brauchen, um ihn ein wenig zu verstehen. Oder die Tatsachen werden die Antwort bringen. Es war leichter, Euripides zu verstehen. Aber dieser sublime Widerspruch einer Bestimmung, die so dunkel erscheint, einer Welt, die immer wieder in den Untergang zu treiben scheint, eines so wahnsinnigen Menschen - ist das eherne Zeitalter zu Ende? Wenn alle Höllen scheußliche Wesen auszuspeien scheinen, die geschminkte Masken und verschiedene Hüte tragen? Träumte Sri Aurobindo?

Den Gott, der Feuer ist, verehre ich, nicht Gott den Traum. [[Savitri, X.2.614, H.K. S. 628 ]]

antwortet Savitri dem Tod.

Selbst Sophokles, so ruhig und heiter, läßt in einem der seltenen Momente, wo er seine Fragen durchscheinen läßt, den jungen Philoktetes sagen, ja, fast schreien:

Ich dacht' es mir; denn Schlechtes kommt so leicht nicht um,
vielmehr wird es von Himmelsmächten gut gehegt.
Es freut sie gar, was tückisch ist und abgefeimt,
zurückzusenden aus der Unterwelt; jedoch
was rechtlich ist und tüchtig, stoßen sie hinab.
Wie soll ich das verstehn, wie soll ich's loben, wenn
ich, Göttliches verehrend, Götter böse fand
. [[Sophokles, Philoktetes, S. 286 ]]

Wir sind vielleicht bei dem wahren Augenblick dieser Frage angekommen, und bei ihrer Lösung.

Soll das etwa Gott sein?

Sri Aurobindo war kein Träumer, er brannte mit einem anderen Feuer, und nachdem er ein wenig in die Augen dieses tiefen Indiens geblickt hatte, stürzte er sich in die revolutionäre Tätigkeit. Es war die Zeit der Königin Viktoria, Kaiserin über Indien, die Zeit der großen Ausbeuter, Bestecher und Teiler, die Sri Aurobindo unter eleganten Hüten wimmeln sah. Sri Aurobindo war im wesentlichen ein Revolutionär, was Sophokles nicht war - er wollte sein Drama in das Leben einbringen, er wollte seine Frage dieser menschlichen Materie und unserer Nacht selbst entreißen. Er wird Indien umstürzen - für einen Augenblick - inmitten verängstigter, von den Engländern manipulierter "Kongressisten" und scheinheiliger Pazifisten, die nichts heiligen (und nichts retten werden, im Gegenteil). Ich bin weder ein ohnmächtiger Moralist, noch ein kraftloser Pazifist, [[On Himself, 26:22 ]] sagte er. Er ruft die Seele Indiens, die Große Mutter auf, und erhält eine Antwort - für einen Augenblick. Er hatte diese so alte Feuerseele gesehen. Und ganz plötzlich, mitten in dieser revolutionären Tätigkeit, eines Tages in Bombay, wird er hochgehoben, emporgezogen wie von einem Wirbelsturm und ins Nirvana aufgenommen, wie Buddha zweitausendfünfhundert Jahre zuvor, als Sophokles vielleicht noch auf den Straßen Athens einherwandelte. Es geschah im Januar 1908. Eindeutig befand sich Sri Aurobindo im Herzen all dieser Gegensätze.

Nirvana

Alles ist ausgelöscht. Nur das stumm All-Eine.
Der Geist, von Gedanken befreit, das Herz von Leid,
schwindet jetzt dahin, jenseits aller Vorstellung.
Kein ich mehr, noch Natur, noch bekannt-unbekannt.
Die Stadt, ein Schattenbild ohne Tönung,
schwebt, zitternd unwirklich; Formen, abgeflacht,
gleiten wie leere Filmgestalten; versinkend wie ein Riff
in uferlosen Schlünden endet die Welt.
Das unbegrenzbar Dauernde allein ist da,
Ein Friede, ungeheuer, gestaltlos, still,
löst alles ab, - in Dem, was einst ich war
bloß schweigend namenlose Leere, bereit
zu vergehen im Unkennbaren
oder zu erschauern in den leuchtenden Meeren des Unendlichen
. [["Nirvana", Collected Poems, 5:161 ]]

Dann warfen ihn die Engländer brutal ins Gefängnis, wie um ihn an den anderen Pol des Olymps zu schleudern, mitten in den Widerspruch: er wird beschuldigt, ein Attentat gegen einen würdigen englischen Verwaltungsbeamten geplant und organisiert zu haben. Man will ihn hängen. "Er ist der gefährlichste Mann, mit dem wir es zu tun haben", erklärt Lord Minto, der Vizekönig Indiens. Das war im Mai 1908.

Was war nun dieses seltsame Geschick zwischen den Teufeln und den Göttern, zwischen dem Olymp und den Höllen, und wo war der "Teufel", wirklich? Oder der Gott, der so unermüdlich dieses Feuerwesen zu seiner chaotischen Bestimmung führte - auf welches Ziel hin? Dieses von Sophokles so hartnäckig gesuchte und immer verpaßte "Ziel". Man kann eine Tragödie nur verstehen, wenn man sie in seiner eigenen Haut erlebt. Welcher Teufel?

Heute erlebt die ganze Erde diese Tragödie in ihrer eigenen Haut.

Er suchte in der Hölle ihren Grund und auch die Wurzel dieser Hölle [[Savitri, II.8.230, H.K. S. 240 ]]

sagt der König in Savitri.

***

Soll dies etwa das Leben sein?

Als sich die Gitterstäbe seines Gefängnisses in Alipore hinter ihm geschlossen hatten, begann für Sri Aurobindo ein anderes Leben. Es ist seltsam, wie dieser "Tod" für die Menschen und die Nationen oder die Kreisläufe und Gezeiten der Erde immer der Beginn von etwas anderem ist. Und die "Höhepunkte" gehen ihrem Zerfall entgegen, der auch ein Beginn ist - oder ein Wiederbeginn von "etwas", das sich sucht und das stirbt, um sich aufs neue zu finden.

Er war im Nirvana, aber auch das ist eine alte Sache, die noch ein Gipfel war, während sich die Erde in gleichbleibender Nacht drehte. Sophokles schaute schon am anderen Ufer der Gestade Asiens: Ich sehe wohl, daß wir alle, die wir hier leben, nicht mehr als Phantome oder leichte Schatten sind.

Aber diese Schatten mühen sich ab, auch die Erde. Wird sie einmal mehr sterben, um sich wiederzufinden?

Sri Aurobindo sah diese Schatten wohl, die nicht leicht waren, und dieser brave kleine Mensch, der am Ende einer Schnur hing, rührte ihn nicht - so viele Male schon war er gehängt und verbrannt worden und im einen oder anderen Kerker unserer alten Geschichte verschwunden. Soll dies etwa das Leben sein? Sri Aurobindo hat dieses brennende Wort, das alles zusammenfaßt, dieses so mächtige Wort, das sich in das Mysterium gräbt, wie in unser Herz:

Leben, auf daß der Tod sterbe.

Als ob gerade der Tod wieder und wieder zu sterben suchte durch alle unsere Leben und andere verschwundenen Erden hindurch. Als ob alle diese Erden sich drehten, sich gedreht hätten, um den Tod des Todes zu finden - endlich das Leben.

Feuer Gottes, ich begeisterte mich für das Leben,
und ich sammelte Asche:
Leben, auf daß der Tod sterbe.
War es wirklich Leben, das Er mir gab
? [["Death and the Traveller Fire", Collected Poems, 5:604 ]]

Wir sagen "das Leben", als ob es selbstverständlich wäre. Es ist das einfachste der Dinge, es zu sehen und in einem Herzen pochen zu fühlen, seit dem Beginn der Zeitalter vor Darwin. Und wir sagen "die Morgenröte des Lebens", so wie wir die Geburt eines ersten Babys feiern. Es gibt ein "Phänomen Leben", das sich abspielt - aber es ist vielleicht nicht das Phänomen, für das wir es halten. Und wenn es ein "Phänomen des Todes" wäre, das sich unablässig wiederholt, um schließlich zum Leben zu gelangen?

Alle unsere Forschungen gehen vielleicht in die falsche Richtung.

Nicht das Leben müssen wir heilen, sondern den Tod, der Tod muß zunichte werden.

Alle unsere Himmel liegen vielleicht ebenfalls in der falschen Richtung und auch alle unsere Nirvanas: Die Erde selbst muß die Himmel gebären, der Tod selbst muß das Leben hervorbringen. Die Himmel müssen von unten her wachsen. Diese nie erforschte "finstere Gruft" muß ihr Geheimnis freigeben, das keine Wissenschaft jemals berührt hat. Und wieder hören wir Sophokles, der den sterbenden Herakles auf die Bühne treten läßt, vom Schmerz zerrissen, vergiftet von demselben Giftpfeil, mit dem er den Zentaur Nessus getötet hatte:

Tot hat er mich lebend getötet. Und ebenso der wahnsinnige Aias, der sich in das Schwert Hektors stürzt:

Und sterbend hat dich Hektor schließlich seinerseits getötet, sagt Teukros, der Bruder des Aias. Und Äschylos erklärte mit schlichten Worten ungefähr dreißig Jahre vor Sophokles in den Choephoren: Ich sage, daß die Toten den Lebenden erschlagen.

Die Toten töten die Lebenden - sie kommen wieder und wieder, wie unser eigener Bruder in unserem eigenen Leib, wie unser eigener Vater im Leib der Nationen, wie vielleicht der Vater aller dieser Zeitalter und all dieser Erden. Und kein Himmel wird jemals diesen Alptraum heilen, solange man nicht den Himmel in jenem Leib findet: "im goldenen Tor".

Nach einem Jahr im Gefängnis wird Sri Aurobindo, schweigend auf der Bank der Todeskandidaten sitzend, unverhofft freigesprochen. Aber er war nicht mehr derselbe Mensch, er suchte nicht mehr Indiens Revolution, nicht mehr die Unabhängigkeit vom Britischen Weltreich, sondern die Revolution des Menschengeschlechts und die Unabhängigkeit von der Herrschaft des Todes.

***

Die grimmige Frage

Das Mysterium dieser Leben, die dahinziehen, ohne zu wissen und die dennoch wissen, wie die Töne einer großen Musik, die verklingen und schon diesen Triumph oder dieses Zerrissensein enthalten. Diese großen unbekannten Schritte der Erde, die gehen, ohne zu wissen, und für einen Moment glauben, es sei dieser Gott, jene Wissenschaft, jener König, der alles für sie weiß, und dieses immer erwartete Te Deum. Mehr und mehr weiß man alles, selbst über die Sterne, und mehr und mehr nichts, und jedesmal versinkt man in diesem Nichts, das dennoch eine große Musik enthält, einen großen Rhythmus, der unsere Schritte verhallen läßt, wie auch die Sterne. Unserem Leben fehlt ein Ton, ein großer Ton, der unsere Herzen pochen ließe wie im Einklang der Welten und plötzlich das Netz des Unbekannten und alle diese vorübergehenden Könige und alle diese Masken zerrisse. Wie lang der Weg doch ist, um ganz einfach zu wissen, was man ist.

Die Welt ist anders, als wir sie jetzt sehen und uns denken,
und unser Leben ist ein tieferes Mysterium als uns träumt
. [[Savitri, II.5.169, H.K. S. 179 ]]

Selbst diese Materie, so sicher unter unseren beiden Füßen, so mikroskopisch von unserer kurzlebigen Wissenschaft erforscht, ist "eine Maske", sagt Sri Aurobindo. Und diese von unseren Priestern oder unseren Idealismen gründlich in Besitz genommenen Himmel sind

ein bunter Paradiesvogel in einem Käfig. [[Savitri, II.6.179, s.a. H.K. S. 189 ]]

Wir wissen NICHTS. Wir hatten uns noch nie so verirrt. Selbst die "Wilden" wußten es besser, selbst die Vögel, die direkt ihren unbekannten Weg vom fernen Sibirien zu dem kleinen Heiligtum in Indien nehmen, den die stummen Zellen ihrer Flügel dennoch genau kennen. Wir kennen unsere eigenen Flügel nicht - haben wir denn welche? Außer unseren Titanenflügeln, die nirgendwo hinführen. Und wer unter uns stellt sich auch nur eine Frage, da alle Antworten von unseren Weisen gegeben wurden? - eine einfache, stumm brennende Frage.

Der Mensch ist ein Anomaler, der seine Normalität noch nicht gefunden hat

sagt Sri Aurobindo im Zyklus der menschlichen Entwicklung.

Er kann sich vorstellen, es gefunden zu haben,
er mag in seiner Art normal erscheinen,
aber diese Normalität ist nur eine Art provisorischer Ordnung ...
und selbst, wenn er unendlich viel höher als die Pflanze und das Tier steht,
ist er nicht vollkommen in seiner eigenen Natur,
wie es die Pflanze und das Tier sind
. [[The Human Cycle, 15:220 ]]

Dieses Feuer, das Sri Aurobindo war, verläßt sein Gefängnis, verläßt seine Revolution und macht sich mit seiner Frage auf den Weg.

Warum ist es, und wozu sind wir hier?
Wenn denn die Rückkehr zu einem Wesen ewiger Wonne
Bestimmung unsres Geistes ist, oder die Rückkehr
zu einer stillen Höhe unpersönlicher Erhabenheit endloser Ruhe
. [[Savitri, VI.2.441, H.K. S. 455 ]]

Sri Aurobindo kannte das Wesen dieser Glückseligkeit, aber er kannte auch das Unsterbliche im Menschen - und wenn das Unsterbliche da ist, warum denn sterben?

Des Unsterblichen Stolz lehnte das düstere Verhängnis ab,
zu leben als ein Geizhals dürftigen Geschachers
zwischen unserer Ärmlichkeit und eingeschränkten Hoffnungen
und jenen mitfühlenden Unermeßlichkeiten
. [[Savitri, I.5.77, H.K. S. 87 ]]

Es war im Jahre 1910. Er suchte Zuflucht in Pondicherry, das damals noch eine französische Kolonie war. Vierzig Jahre lang wird er brennen, ohne sich zu entfernen, um in dieser Maske der Materie und diesem Käfig unserer gemalten Paradiese zu graben.

Die schreckliche Frage nach dem Sinn menschlicher Stunden lebte wieder auf ... [[Savitri, I.1.10, H.K. S. 20 ]]

Er wollte das WAHRE wissen, wie Ödipus - wissen und HANDELN.

Denn Wahrheit und Erkenntnis sind bloß eitler Schimmer,
wenn die Erkenntnis nicht die Macht bringt, Welt zu wandeln
. [[Savitri, X.4.664, H.K. S. 678 ]]

Aber wir wissen noch nicht, wie weit dieses Wesen aus Feuer zu gehen vermochte. Der mechanische Tod, den die Engländer ihm auferlegen wollten, war nichts als eine Maske verglichen mit JENEM, den er mit weit offenen Augen suchte, um ihm sein Geheimnis zu entreißen - unser Geheimnis.

Dem Zweifel und dem Glauben gegenüber gleichgültig,
begierig einzig nach dem Schock der nackten Wirklichkeit,
durchschnitt er die mentale Fessel, die das Erdenherz umschnürt,
und warf das Joch hinweg, das der Materie Gesetz bedeutet.
Des Körpers Regeln bannten nun nicht mehr des Geistes Mächte.
Sobald das Leben seinen Pulsschlag unterbrach, setzte der Tod nicht ein.
Er wagte noch zu leben, wenn Atem und Denken verstummten.
So konnte er in jenen magischen Bereich eintreten,
den wenige mit raschem Blick nur flüchtig sehen können,
und war für einen Augenblick allem mühsamen Wirken des Mentals enthoben,
der Ärmlichkeit der irdischen Betrachtungsweise der Natur
. [[Savitri, I.5.74, H.K. S. 84 ]]

***

Die Flut auf dem Vormarsch

Diese weite Schau Sri Aurobindos ist auch ein Mysterium.

Wie die vedischen Seher hörte er diesen großen Rhythmus, der aus dem Unendlichen kommt und in das Unendliche zurückkehrt, der immer wieder kommt und sich endlos entfaltet, wie der Ton des Universums, selbst dieses Etwas, das die Jahrhunderte und die Schritte unseres Lebens wie die Augenblicke der Geschichte zusammenwebt, das, was Beethoven manchmal grandios erfaßte, was die Dichter flüchtig vernahmen, was unsere Herzen hören, ohne es zu wissen, wenn alles düster, wenn alles nichts ist. Eine große Welle von keinerlei Sprache, die immer wieder vorbeirollt in dem Schweigen über unseren Köpfen wie in den interstellaren Räumen, und die alle Zeitalter wie das Heute durchquerte und alle Zukunft enthält, als ob sie schon gesungen wäre, immer gesungen, wie die erste, stets gleiche Note der Universen, die unsere Schreie und unsere Tumulte trägt und alles schon weiß und uns in ihrer großen Woge des Entzückens davonträgt. Für einen Augenblick wissen wir, und diese einzige Sekunde lebt in unserem Leben, und dieser einzige Augenblick durchquert alle unsere Tode und alle unsere Nächte, als ob nur dieses Entzücken lebte, wüßte, sänge. Darin setzen wir die Stunden und die schweren Jahre fort, man wird für immer getragen, man kennt das Ziel und die Sterne. Sri Aurobindo hörte diesen großen Rhythmus, und alles umhüllte sich mit Wissen, die Vergangenheit wie die Zukunft, die Gegenwart in diesem großen Kielwasser und die Macht, die bewegt. Er hörte die alten Rishis aus der Tiefe des Himalaya, er hörte die Stimmen der Vergangenheit, die sanft auf unseren Stränden perlen, oder den stummen Tumult eines sich nähernden Sturmes, der auch vorbeiziehen wird. Er las das vedische Sanskrit, wie er Sophokles gelesen hatte, er hörte diese Sprache aus Bronze und Muschelhorn, die endlos wiederhallt seit der Dämmerung der Zeitalter und die unser Geheimnis trug und diesen tobenden Augenblick, wo alles rollt und zusammenbricht, um schließlich zu einer höchsten Geburt zu gelangen oder noch einmal zu sterben.

1914 kam Mutter; sie begegneten sich oder fanden sich wieder, wie schon so viele Male zuvor, zur Stunde, wo die Dinge geschehen. Diesen Krieg hatte er kommen sehen, auch den "Sieg" der Alliierten, aber er täuschte sich nicht, und er wußte, daß dahinter noch größere Unruhen im Anzug waren, wie die Grundsee auf dem noch glatten Meer. Etwas war auf dem Wege, und die Zeitalter aus der Tiefe gelangten vielleicht zu ihrer Stunde. Prophetische Sätze kamen zu ihm auf den Flügeln dieses großen Rhythmus, und wenn wir sie an die siebzig Jahre später hören, nehmen sie eine so präzise, so phantastisch genaue Bedeutung an. Hier, was Sri Aurobindo in seiner Zeitschrift Arya am 15. Mai 1916, mitten im Krieg, schrieb:

... die alten Götter sind noch nicht tot. Das alte Ideal einer vorherrschenden Kraft, die die Welt erobert, regiert und vervollkommnet, ist noch eine vitale Realität und hat ihren Zugriff auf die Psychologie der menschlichen Rasse nicht fallenlassen. Noch gibt es keine Gewißheit, daß der vergangene Krieg diese Kräfte und dieses Ideal getötet hat; denn der Krieg wurde entschieden durch Stärke, die auf Stärke trifft, durch Organisation, die über Organisation triumphiert, durch überlegenere oder jedenfalls glücklichere Nutzung eben der Waffen, die die wirkliche Stärke dieser aggressiven, teutonischen Macht darstellten. Die bloße Niederlage Deutschlands durch seine eigenen Waffen konnte nicht den Geist töten, der sich damals in Deutschland inkarnierte; sie kann gut zu seiner neuen Inkarnation führen, vielleicht in einer anderen Rasse oder einem anderen Reich, und die ganze Schlacht müßte noch einmal geschlagen werden. Solange die alten Götter lebendig sind, ist das Zerstören oder die Unterdrückung des Körpers, in dem sie sich inkarnierten, eine geringe Angelegenheit, denn sie können sehr gut weiterwandern. Deutschland besiegte 1813 den napoleonischen Geist und zerbrach 1870 die Überbleibsel seiner europäischen Vorherrschaft; das gleiche Deutschland wurde zu der Inkarnation von dem, was es unterworfen hatte. Das Phänomen kann sich leicht in gewaltigerem Maßstab wiederholen. [[The Ideal of Human Unity, XV, 319-320 ]]

1940 ging auch vorbei, und fünfzig Jahre später sind die alten Götter immer noch da, gewaltiger denn je, wirksamer denn je - scheinheiliger denn je und noch zahlloser inkarniert unter einer weißen oder schwarzen oder gelben Haut, unter respektablen Hüten und verschiedenen Bärten und respektablen Schlagwörtern in allen Sprachen der Welt, die Maschinenpistole in der Hand.

Ruhig spricht Sri Aurobindo 1919:

Das zeitweilige Anhalten einer Flut auf ihrem Vormarsch. [[War and Self-Determination, 15:651 ]]

***

Die kranken Kinder der Evolution

Man könnte glauben, die ersten Sätze der Antigone zu hören: Das Unglück ist auf dem Vormarsch. Aber wir wissen nichts vom Schicksal, noch von der alten Finsternis. Wie Sophokles' Helden werden wir vielleicht zum Gegenteil dessen geführt, was wir zu sehen glauben, zum Gegenteil von dem, was unsere Verzweiflung ausmacht, zu diesem alten Paradox der Hölle, das vielleicht ein göttliches Paradox oder ein schreckliches Spiel dieses Todes ist, der schließlich am Ende all dieser kranken Jahrhunderte gerne sterben möchte, und uns Sterbliche und Anomale, bald Verblödete, nötigt, in die Leere unserer Nichtigkeit zu springen und endlich das Leben hinter der Mauer unserer Materie und der hohlen Maske unseres Intellekts zu finden. Wir sind die kranken Kinder der Evolution, und wir sehen unsere kleinen Jahrhunderte wie die langsame Kathedrale des homo sapiens. Unsere Kathedrale zerfällt, und das ist gut so, denn wir ersticken in diesem weltweiten und mörderischen Gefängnis.

Einem Kerker gleicht die unermeßliche materielle Welt.
Jede Straße blockiert ein steinäugiges Gesetz,
an jedem Tor ziehen finstre Riesenwächter auf und ab.
Ein graues Tribunal der Einfältigkeit,
eine Inquisition der Priester der Nacht
sitzt zu Gericht über die Seele, die das Abenteuer wagt
. [[Savitri, I.2.18, H.K. S. 28 ]]

Während so langer Zeit hielten wir uns für das, was wir sind, mit der Gewißheit einer Raupe, die ihrem Wege folgt, und wir hatten so viele Religionen, die uns sagten, was Gott sei, was der Teufel sei, und so viel Wissenschaft, um uns zu beweisen, was die Welt hinter ihren Mikroskopen und Teleskopen sei - wir wurden zu einer Art zubetonierter Gewißheit: Der "Mensch" war völlig vorfabriziert, mit einigen Vervollkommnungen. Man kann sich Roboter und himmlische Fluchtwege vorstellen - aber man entflieht einem fertigen Menschen, um in einer anderen Generation wiederzukommen, genauso fertig, mit noch präziseren Berechnungen dessen, was wir nach dem Gesetz sind. Aber wer berechnet dieses "Gesetz"? Wer beobachtet hinter dem Teleskop oder diesem Mikroskop? Hätten die kleine Eidechse oder die Raupe ihrer Art entsprechende Instrumente, würden sie eine unzweifelbare Eidechsen- und Raupenwelt sehen - wir sehen eine Welt des "Menschen", das ist alles. Wir schieben ein Teleskop oder ein Mikroskop durch die Mauern unseres Gefängnisses und sagen: Das Universum ist "so", und die Materie ist "so" (und Gott ist vielleicht auch "so"), da gibt es keinen Zweifel: man sieht es, man berührt es, man hat es durch Jahrhunderte hindurch berührt, traurige Jahrhunderte, in denen nichts besser wurde. Aber es ist nur das Gefängnis, das sich selbst betrachtet mit den stets selben Augen eines Gefangenen - und wer nimmt das Gefängnis überhaupt wahr? Man müßte herauskommen, um wahrzunehmen, daß man darinnen steckt! Die langen Jahrhunderte sind da, um uns von unserem unentrinnbaren Verhängnis zu erzählen, wie Ananke bei den Griechen. Selbst unsere Himmel sind ein unerschütterliches menschliches Erzeugnis.

Und wenn wir Menschenpuppen in etwas anderem wären? Begraben in uns selbst.

Sri Aurobindo betrachtete die langen Jahrtausende, er hörte den großen Rhythmus, der seit jeher erklingt. Es ist ein langer Weg von einer ersten kleinen Zelle in den namenlosen Ozeanen vor drei Milliarden Jahren, und es ist diese gleiche Zelle in unserem heutigen Gefängnis. Und ruhig, immer so ruhig, sagte er:

Es werden hier auf Erden nur die Anfänge vollendet. [[Savitri, I.5.77, H.K. S. 87 ]]

Drei Milliarden Jahre der Anfänge.

Seit 1910 erforschte er nicht das Nirvana und die Himmel, sondern die Mauern dieses Gefängnisses - eben diese Schatten, die uns einschließen, dort, wo noch keiner lebend hingegangen ist.

Jetzt brütete in ihrem Innern die heilige Finsternis.
Die Welt war tiefe Dunkelheit, riesig und nackt.
Doch diese Ödnis hatte reichern Inhalt als die übervollen Welten,
und diese Leere fühlte mehr als alles Zeitgeborene.
Dies Dunkle kannte dumpf doch unermeßlich jenes Unerkennbare
. [[Savitri, VII.5.522, H.K. S. 536 ]]

Vielleicht konnte er Mutter dieses Geheimnis schon verraten, als sie 1915 von Frankreich zurückkehrte:

Die eine Welt, die nichts vom Selbst, das in ihr wohnt, erkennt,
mühte sich, ihres Daseins Ursache und Seins-Notwendigkeit herauszufinden.
Ein Geist, unwissend dieser Welt, die er erschuf,
durch die Materie verfinstert und verhöhnt vom Leben,
kämpft, um emporzutauchen, frei zu sein, zu wissen, zu regieren ...
Solch eine Finsternis birgt unsere edlere Bestimmung in sich.
Als die Verpuppung einer großen und ruhmreichen Wahrheit
... [[Savitri, III.3.329-30, H.K. S. 339-40 ]]

Schon wußte er:

Durch die empfindungslose Maske habe ich geschaut,
habe gefühlt, wie in den Dingen ein verborgner Geist sich regt
... [[Savitri, XI.1.693, H.K. S. 707 ]]

Am Anfang ist das Ende schon vorausgebildet.
Das aus dem Schlamm entstiegene seltsam irrationale Wesen,
dies Resultat des Kompromisses zwischen Tier und Gott
ist nicht die Krone deiner wundersamen Welt ...
Aus meines Schlummers Zelle hat sich eine Macht erhoben
. [[Savitri, III.4.343, H.K. S. 353 ]]

Und um 1918 schrieb er auf ein Papier ohne Datum:

Diese Unwissenheit der Materie ist ein verschleiertes, involviertes oder schlafwandlerisches Bewußtsein, das alle verborgenen Kräfte des Geistes enthält. In jedem Teilchen, Atom, Molekül und jeder Zelle der Materie lebt verborgen und arbeitet das ganze Allwissen des Ewigen und die ganze Allmacht des Unendlichen. [[The Hour of God, 17:15. ]]

Aber das ist eine Revolution! Die kühnste Revolution aller Zeiten, sinngewaltiger als jene von Darwin, zu der Simonides von Keos vor sechsundzwanzig Jahrhunderten aufrief und vielleicht weitere Schutzflehende, die in der Nacht der Geschichte verschwunden sind: Du, Zeus, o Vater, ändere unser Schicksal!

Er wußte es, er hatte es in seinem Körper berührt.

Und ein Entzücken in des Schlafes Tiefen,
ein Herz von Seligkeiten inmitten einer Welt von Schmerzen.
Ein Kleinkind, das genährt wird an bedeckten Brüsten der Natur,
ein Kind, das in magischen Hainen spielt,
das an des Geistes Strömen zum Entzücken flötet,
erwartet jene Stunde, da wir uns seinem Ruf zuwenden werden.
In dieser Einkleidung ins Fleisch des Lebens
überlebt eine Seele, die ein Funke Gottes ist,
doch manchmal bricht sie durch den tristen Vorhang
und zündet jenes eine Feuer an, das uns halb-göttlich macht.
In unsres Körpers Zellen da wohnt ungesehen eine Macht
. [[Savitri, II.5.169, H.K. S. 179 ]]

1918, als wir unsere Serenaden zu einem Sieg sangen, der immer noch der Triumph der alten Verderbnis unter einer anderen Maske war, verkündete Sri Aurobindo seine Zusicherung eines anderen Sieges am Ende unserer schwarzen Zeitalter, diesen Zauberschlüssel [[Savitri, I.4.49, H.K. S. 59 ]] in unserer Finsternis, dieses göttliche Paradox, das man den Jahrhunderten der sinnlosen Morde, der sinnlosen Scheiterhaufen, der sinnlosen Erschossenen im Morgengrauen eines wahren, noch nie geborenen Tages entreißen muß:

der mensch ist ein übergangswesen; er ist nicht endgültig. denn im menschen und hoch über ihm steigen strahlende ebenen auf zu einer göttlichen übermenschheit. [[The Hour of God, 17:7 ]]

Hier scheint es so, als ob Materie des Körpers Leben formt
und daß die Seele dorthin folgt, wohin seine Natur ihn treibt.
Natur und Schicksal, sie erzwingen seines freien Willens Wahl.
Doch Geister höhrer Art können das Gewicht der Kräfte umkehren
und so die Seele zu dem Künstler ihres Schicksals machen.
Dies ist die wahre mystische Erkenntnis, die uns unsre Unwissenheit verbirgt:
Verhängnis ist für unsre eingeborne Kraft doch nur ein Durchgang,
und unsre Qual ist des verborgnen Geistes Wahl.
Ananke ist die eigene Entscheidung unsres Wesens
. [[Savitri, VII.1.465, H.K. S. 479 ]]

Jahrhundertelang gehorchten wir den mit unfehlbaren und grausamen Religionen ausgestatteten Priestern der Nacht, die heute mit einer noch unfehlbareren und noch grausameren wissenschaftlichen Religion bekleidet sind - alle verstärkten sie die Mauern unseres Gefängnisses, um sich das einträgliche Heil ihrer Schäfchen oder das noch gewinnbringendere Heil von Kanonen zur Verteidigung des Vaterlands und der Wissenschaften zum Schutz vor Krankheiten anzueignen. Aber der Mensch war noch nie so krank, so ohnmächtig, und unsere Kathedralen münden in Höllen, unser Intellekt im kollektiven Wahnsinn einer Rasse, die weder ihr Ziel noch ihren Schlüssel gefunden hat. Werden wir endlich die "Normalität" unserer dem Ende zugehenden Rasse finden? Oder werden wir zurück in das alte Chaos der Vorgeschichte stürzen?

Wenn also der Mensch unfähig sein sollte, über die Mentalität hinauszugelangen, müßte die Entwicklung über ihn hinausgehen; das Supramental und der Übermensch müßten sich selbst manifestieren und die Führung der Schöpfung übernehmen. [[Sri Aurobindo, The Life Divine, 19:847, H.K. 2. Buch, 2. Teil, S. 251 ]]

Denn das Paradox der Höllen ist schon immer ein göttliches Paradox gewesen, und was auch immer geschieht, welches Verderben wir auch noch durchstehen müssen, wie immer die Priester und die Teufel des Augenblicks beschaffen sind, wir gehen alle dem unvermeidlichen Ziel entgegen.

Als Opponenten jenes Allerhöchsten sind sie hergekommen.
aus jener Welt des seelenlosen Denkens und der Macht,
um hier durch Feindschaft dem kosmischen Plan zu dienen
. [[Savitri, II.8.226, H.K. S. 236 ]]

sagt Savitri.

Denn schließlich dienen alle Widerstände und Verneinungen dazu, das Feuer zu nähren, das nötig ist, um diesen Widerstand selbst und diese Negation selbst zu schmelzen, in den Arten wie im Individuum - um weiter zu gehen, zum Ziel. Das ist die fürchterliche Strategie des Ewigen, [[Savitri, I.2.17, H.K. S. 27 ]] sagt Savitri wiederum. Alles dient dem kosmischen Plan. Alles geschieht FÜR, selbst wenn alles dagegen ist.

Deshalb hat Sri Aurobindo auch alle seine Weisheit in vier Worte zusammengefaßt: Verwandle alles in Honig! [[Thoughts and Aphorisms, Nr. 300 ]]

Man muß das Für einfangen, das im Wider enthalten ist.

***

Eine unermeßliche Revolution

Angesichts dieser unermeßlichen Revolution sind wir ergriffen und stammeln Worte wie ein Kind vor dem ersten Ozean und seinen so großen Wellen, und wir sagen verwundert zu unserer Mutter: "Schau!" Denn noch nie hat sie wie wir diese große Sache gesehen, die abläuft und uns vielleicht mitreißt. Wir stehen da vor diesem neuen Ozean, diesem schrecklichen Wunder - deina, sagten die Griechen - verwirrt und wissen nicht, wie wir diesen Ansturm, diese Flutwelle, über die wir niemals nachgedacht hatten, benennen sollen, die unsere Körper wie unsere Nationen überfällt und all diese stummen Zellen des großen Körpers unserer erschütterten Erde. Wir möchten zu anderen Kindern am Rande dieses schrecklichen Wunders sagen: "Schau!" Aber sie nehmen es nicht wahr - das Schicksal ist der Augenblick, in dem man wahrnimmt ..., was da ist, das Mysterium, das schon immer da war und das die Tiere besser kennen, die fliegen und ihren Kurs halten, ohne zu wissen, die den großen Rhythmus einer Welt aus Millionen niemals getrennter Zellen von Millionen Atomen eines einzigen Körpers hören. Es ist wie die erste Geburt einer Welt, die sich wiedererkennt, die sich selbst überall berührt, wie die kleine Welle im großen Meer. Wir öffnen unzählige Augen, die wir nicht kennen. - Schau! Höre, was raschelt, was singt, was wie ein gefährliches Wunder in unserem großen, erwachten Körper grollt! Und wie sollen wir sagen, was unseren Brüdern in ihrer kleinen abgetrennten Schale geschieht? Sie muß bersten, diese Schale: sie ist scheußlich, sie ist abscheulich - es ist der Tod und das Leben zugleich! Werden wir mit der Welle rollen, werden wir die Augen öffnen und die Mauern unseres Gefängnisses durchbrechen?

Aber wie funktioniert diese Revolution?

Dennoch ist es einfach, das Tier versteht sehr gut, aber es hat keine Worte und folgt seinem Weg der Ameise oder Raupe im unermeßlichen Chaos, das die Erde unablässig durchschüttelt seit der ersten Welle, seit dem ersten Körper - und wir besitzen so viele stählerne Antennen in unserem letzten Körper, und wir wissen nicht, was vor sich geht. Wenn aber ein künftiger Abenteurer in dieses ungeheure Gefängnis unserer Art, dieses einzige Gehäuse des dichten Schattens, das die unzähligen Zellen unseres einzigen Menschenkörpers umhüllt, ein Loch bricht - ein einziges Loch -, wird sich alles ändern! Eine andere Luft dringt herein. Es ist eine andere Macht, eine große unbekannte Welle, als ob plötzlich irgendein Fisch des alten Ozeans eine neue Erde sähe und einen anderen Himmel atmete - und was soll er mit seinen alten Flossen anfangen? Sie haben Beine entwickelt, sind zu Tieren aller Arten und sogar zu Menschen geworden. Es ist ein neues Chaos. Und dennoch waren es alte Zellen, die gewirkt, gelitten hatten, sich mit einer solchen Beharrlichkeit einen Weg durch jedes Klima und alle Ruinen bahnten, mit einer so gewaltigen Macht, die diese Körper formte und wiederformte, als ob ein Gott aus der Larve schlüpfen wollte. Und wenn wir endlich unsere eigene Macht auf dem Grunde des alten Körpers der Zeitalter packten und dieses alte Tier neu formten und dieses alte Gefängnis bewußt änderten, anstatt dem alten Chaos sein Werk des Gebärens zu überlassen? Werden wir uns selbst gebären und aus diesem schwarzen Leib herauskommen? Wir kennen unsere eigene Kraft nicht! Wir haben sie noch nie am Ende unserer Mikroskope berührt, die alten Priester der Nacht wachten gut darüber, daß wir niemals unser eigenes Geheimnis berührten. Aber wir müssen dieses Gehäuse zerbrechen, und das tut weh. Diese alte Evolution hat schon immer Mühe gehabt, ein neues Baby hervorzubringen mit ihrem alten Teig. Aber dieser Teig ist da, diese gewaltige Energie ist da - es genügte, ein erstes Loch in das Gehäuse des Menschen zu brechen und diese schlafende Macht, die in uns wohnt, zu befreien. Dann ist ALLES möglich. Eine neue Welt ist möglich, und diese alten unerschütterlichen Atome können sich anders organisieren, durch die Macht selbst, die ihnen innewohnt, anstatt Unheil anzurichten. Ein neues Prinzip der Materie, sagte Sri Aurobindo. Diese "Materie" war nur diejenige, die unsere Werkzeuge mit ihren Brillen sahen: es ist eine Materie des Menschen, gesehen von Menschen und mit falschen Kräften.

Dann würden wir sagen: Schau!

Gerne würden wir sagen: Du kannst! Du kannst!

Aber dieses Gehäuse zu zerschlagen, das tut weh.

Die ganze Welt leidet.

Ein Wesen des Feuers, genannt Sri Aurobindo, ein großer Abenteurer der Evolution, brach ein erstes Loch in diesen Menschpanzer, und ein einzigartiger Wind weht jetzt durch die Welt.

O fruchtbare Finsternis!

Wir sind noch im Jahr 1919. Siebzehn Jahre später, 1936, schrieb Sri Aurobindo in einem Gedicht - dort verbarg er am besten sein Herz und seine Arbeit in einer Welt, die ihn kaum verstand. Man mochte sagen: "Ach, das ist nur Poesie!", aber für die Griechen hieß poiein TUN:

Tief und lang grub ich
In schrecklichem Schmutz
Ein Bett für das Lied des goldenen Flusses,
Ein Heim für das todlose Feuer.

Ich schuf und ich litt in der Nacht der Materie
Um den Menschen das Feuer zu bringen ...
Kampf und Dunkel ist alles ringsum;
Denn die Lampen-Sonnen der Menschen
Sind Glimmlichter nur, von Göttern geliehen
Für ihre suchenden Schritte.

Der Mensch beleuchtet mit Fackeln der Hoffnung
Einen Pfad, der ihn plötzlich im Stich läßt.
Ein Bruchteil der Wahrheit ist sein weitester Ausblick
Und ein Gasthaus sein Pilgerziel.

Die höchste Wahrheit fürchten die Menschen,
Das Licht der Lichter verleugnen sie;
Sie rufen zu dunklen Göttern,
Oder wählen Dämonen-Altare.

Alles Gefundene muß wieder gesucht werden,
Jeder erschlagene Feind lebt wieder und wieder,
Jede Schlacht wird gefochten und wieder gefochten
Durch die Gefilde fruchtloser Leben.

Meine klaffenden Wunden sind tausend und eine ...

Eine Stimme rief, "Geh', wo niemand gegangen!
Grab tiefer, noch tiefer
Bis du erreichst den grimmigen Grundstein
Und klopf an das schloßlose Tor."

Und ich sah, daß eine Falschheit gepflanzt war,
Tief an der Wurzel der Dinge,
Wo die graue Sphinx den Rätselschlaf Gottes bewacht ...

Ich ließ die Oberflächen-Götter des Denkens,
Die durstigen Seen des Lebens
Und tauchte zu den Geheimnissen unten
Durch die dunklen Wege des Körpers.
Ich grub durch der stummen Erde schreckliches Herz
Und hört' ihre Schwarz-Messen-Glocke.
Ich sah ihrer Todespein Quelle,
Und den tiefen Grund der Hölle. ...

Die Leere, wo die Gedanken geboren,
Den Abgrund hab' ich durchdrungen.

Auf einer tollkühnen Treppe sind meine Füße gestiegen
...
Um die Feuer der Herrlichkeit Gottes
In den menschlichen Abgrund zu bringen ...

Alle Schleier zerreißen nun ...

Überbrückt ist der Golf zwischen Höhe und Tiefe,

Und die goldenen Wasser strömen ... [["A God's Labour", Collected Poems, 5:99-102, dt. aus "Flammenworte" ]]

***

Die ungeduldigen Kräfte in Verschmelzung

Aber die Menschen wissen noch nicht, was geschieht, weder welches Wunder sich vorbereitet, noch welches Feuer in ihnen brennt, um wiedergeboren zu werden und in ihrer alten Welt zu sterben, noch welches Gesetz sich ihrer Materie bemächtigen wird. Wir sind noch im Jahr 1919, und die alten Götter schicken sich an umzusiedeln, die siegreichen Aliierten bereiten sich vor, ihren Völkerbund in Genf zu gründen, vor ihrer nächsten Kathedrale, den Vereinten Nationen in New York. Unermüdlich versucht Sri Aurobindo zu sagen - er hat zweihundert Leser, oder vielmehr sucht er zweihundert Leser ... in Frankreich (ja, in Frankreich) für seine neue Zeitschrift Arya:

Ein Krieg ist zu Ende gegangen, eine Geisteswelt ging zugrunde und verschwindet allmählich in der äußeren Natur ... der neue - oder der alte, in anderer Form weitergeführte Krieg, der schon beginnt ... In diesem Kampf erhebt sich für den denkenden Menschen die Frage: Welche Kraft oder welche Kräfte drücken in diesem Umbruch ihren Willen oder ihr Bemühen aus? Und welcher Macht oder welchen Mächten sollen wir dienen? An welches innere oder übermenschliche Ding sollen wir uns binden, da äußere Throne und Systeme nur Blätter sind, die der Sturmwind des Atems der Zeit vor sich hertreibt? Um was oder wen zu inthronisieren sollen wir kämpfen?... Es gibt etwas Größeres als unsere Gedanken und Wünsche, etwas Beständigeres und Nachdrücklicheres, das über ihren Wandel hinaus - und doch durch sie - dauert und wächst. Gäbe es dies nicht, wäre all dies menschliche Mühen vergebliche Unruhe, das menschliche Leben nur die geschäftige instinktive Routine des Bienenschwarmes und Ameisenhügels und weniger Wirtschaftlichkeit und Weisheit ...
Die mechanische Konstruktion der Einheit wird vergeblich sein, wenn sich die Einheit nicht im Herzen der menschlichen Rasse findet und nur als Mittel dient, unsere Interessen zu schützen und zu organisieren. Wie in der unmittelbaren Vergangenheit wird das Ergebnis dann nur ein wilderer Kampf und neue Ausbrüche von Revolution und Anarchie sein
. [[War and Self-Determination, 15:588-597 ]]

Und Sri Aurobindo fügt folgendes hinzu, das fünfundsiebzig Jahre später wahr bleiben wird:

Ein Mehr an mechanischer Freiheit, den Bedürfnissen, Interessen, Bedenken der alten noch aufrechten Weltkräfte entsprechend großzügig oder sparsam ausgeteilt ... ein neues System von Dämmen, um das weitere Übergreifen der Flut zu verhindern, wird die Katastrophe schwerlich erfolgreich beenden. Selbst wenn kurzsichtige Klugheit dies durch einen aufgrund vereinten Bemühens erfolgreichen und organisierten Egoismus eine Zeit lang zustandebrächte ... wäre das doch nur ein künstlicher Aufschub, der in nicht ferner Zukunft zu neuem Aufruhr führt ... ein vergeblicher Versuch, das Schicksal zu betrügen. [[War and Self-Determination, 15:592-593 ]]

Dieses Schicksal ...

Aber wir, welche Waffen haben wir mitten unter all diesen Wächtern des Friedens, die Wächter des Krieges und Plünderer der Erde sind?

Prophetisch legte Sophokles am anderen Ende der Jahrhunderte dem Rohling Kreon, in Antigone, diese Sätze in den Mund:

Denn nichts, was bei den Menschen jemals Sitte ward,
ist so verderblich wie das Geld: selbst Städte tilgt
es aus; es jagt die Männer aus den Häusern fort,
es wandelt auch die redliche Gesinnung um
und lehrt sie häßlichen Geschäften nachzugehen;
es unterweist die Menschen in Verschlagenheit,
und auch Verbrechen nicht zu scheun bei ihrem Tun.
Die aber lohngedungen jene Tat verübt,
die haben endlich ihre Strafe sich erwirkt
. [[Sophokles, Antigone, S. 133 ]]

Die Szene hat sich seit fünfundzwanzig Jahrhunderten nicht geändert, und man sagt sich, daß man alle "bestrafen" müßte! Seit fünfundzwanzig Jahrhunderten haben wir dieses "Schicksal" nicht verstanden, denn wir haben nur die Bestimmung eines Individuums oder einer Nation oder einer kleinen Pfarrei gesehen; wir haben "Gute" und "Böse", "Treue" und "Treulose", "Sünder" und "Heilige" gesehen - "die Deutschen" und die anderen, gemeine Russen und die anderen, und dazu noch irgendwelche Schurken von morgen. Es gäbe kein Ende, diese Gemeinen zu bestrafen und sie aus unserer kleinen Kirche zu exkommunizieren! Und wir beginnen aufs neue. Aber alles ist gleicherweise "gemein" oder gleicherweise "gut-gemein". Die totale menschliche Zweideutigkeit. Wie Sri Aurobindo es mit seinem wunderbaren Humor ausdrückte: das Gefühl der Tugend hilft uns, unsre Sünden insgeheim zu hätscheln. [[Thoughts and Aphorisms, Nr. 69 ]] So bewahren unsere "Friedenswächter" den Krieg sehr gut, wie unsere verschiedenen Päpste ihre Sünder sehr gut bewachen - was täten sie nur, wenn es keine Hölle mehr gäbe! Vielleicht vernimmt man noch den Schrei von Sophokles oder seinen tiefen Schmerz, während der Chor in Antigone unter seiner Maske psalmodiert: Von weither steigen die Leiden, die ich sehe, unter dem Dach der Labdakiden. Es ist das Dach der Menschen, dieses ganzen menschlichen Bündels, das sich in der Nacht abmüht. Wir verstehen nichts von unserem zweideutigen Schicksal, wie die delphischen Orakel, die hierhin drängen, um dorthin zu gehen, wie Athene, die Aias in seinen Wahnsinn stößt, die diese ganze menschliche Familie in ihr Todesnetz drängt und diese Rasse gegen jene andere und diese Gläubigen gegen die anderen aufhetzt - aber die "anderen" gibt es nicht! Es gibt nur ein und dasselbe menschliche Bündel in schwarz und weiß, es gibt eine Totalität der Erde, die vorangeht, angetrieben von Athene, die ihren unerbittlichen Weg nimmt, um uns aus dieser himmlisch verfluchten Art herauszureißen, wie sie andere alte Arten drängte, ihren ekelhaften Sumpf zu verlassen, um eine andere Luft zu atmen. Es ist grausam, solange es andauert. Aber irgendwie muß man aus dieser endlosen nächtlichen Evolution herauskommen...

Wie ein uralter Schoß von riesigen und unheilvollen Träumen,
gekrümmt wie eine Larve in der Dunkelheit [[Savitri, II.8.221, H.K. S. 231 ]]

... um in etwas anderes hineinzuspringen. In diesem ganzen Elend, dieser großen Misere des Ganzen, gibt es keine ideale, moralische oder religiöse oder philosophische Revolution - unsere alten denkenden Revolutionen -, die uns helfen könnte, außer einer Revolution im Körper der Erde selbst, in den Zellen des Anfangs selbst, verschlungen unter den verschiedenen Krusten, mit denen sie sich seit Anfang der Zeitalter bekleidet haben. Unsere letzten New Yorker Kathedralen sind eine Schale mehr über den ungeduldig miteinander verschmelzenden Kräften der sich entwickelnden Natur, [[War and Self-Determination, 15:588 ]] wie Sri Aurobindo sich im Dezember 1918 ausdrückte, und sie werden einstürzen, das ist offensichtlich, denn eine ungeduldige Athene will uns aus diesem endlosen Kreislauf der Menschen ziehen.

Wie bist du weiß und schön und ruhig
und dennoch von Tumult umgeben!

schrieb Sri Aurobindo in einem frühen Gedicht, 1907, wo Poseidon, der Gott der Meere, sich an Athene wandte ...


... die Himmel wanken über dir, Gottheit,
verwundet von Blitzen, und die See
flieht vor deinem schrecklich ruhigen Schritt ...
O gewaltige Jungfrau,

in Schönheit, Aufrührerin der alten Welt. [[Perseus the Deliverer, 6:6 ]]

Und wie immer seit Beginn dieser Tragödie der Erde ist es dasselbe Feuer, das drängt und drängt und im Herzen der Rassen wächst wie in unseren heutigen Herzen unter eben dem Druck, der uns vernichten möchte. Werden wir uns für das Feuer oder die Nacht entscheiden? Es ist unsere einzige "Waffe" wie am Beginn dieser Jahrmillionen. Es gibt schwarze, schwelende Feuer, aber es gibt auch ein Feuer der Liebe, das am Ende von allem übrig bleibt, wenn alles gescheitert ist, wenn man dieser eine Verurteilte in seiner Zelle ist, dieses einzige arme Nichts, das schreit, als ob es schon immer etwas anderes gewesen wäre.

***

Die letzte Dämmerung

Es gibt viele Geheimnisse. Sophokles ist dahingegangen, Sri Aurobindo ist dahingegangen, aber die Gesänge des einen fanden ihren vollen Klang im anderen - wir auch, einige, und das Schicksal wird bald seine Antwort allen diesen Herzen geben, die leiden, selbst dieser Erde.

Dieses Mal wird etwas getan werden [[Evening Talks, 26. März 1924, S. 364 ]]

sagte ruhig diese Erhabenheit von Sri Aurobindo, der viele Male gearbeitet und vielleicht mit Sophokles das unermeßliche Meer betrachtet hatte, diese unermeßliche Zeit, die noch nicht diesen Moment der Bestimmung gebracht hatte, für den alle diese Wellen unsere Leben und Kaiserreiche rollen ließ. Ja, die Zeit, die abläuft, unerschöpflich, erbarmungslos, die Zeit stürzt alles um ... sie läßt das Unmögliche möglich werden, sie erschüttert das Unerschütterliche. Beide wußten, daß diese Welle kommen würde, daß diese Schatten eine andere Morgenröte verbargen - dieser so ferne Olymp hatte nicht so viele Nächte und so viele Schreie rollen lassen für ein Nichts, er hatte nicht sein ganzes Geheimnis geoffenbart.

Es gibt wohl Geheimnisse, und wir würden gerne sagen, was in unserer Sprache möglich ist - vielleicht muß man in die Vorgeschichte zurückgehen, um zu finden, was jetzt ist. Die Vorgeschichte der Menschen war immer ein blinder Körper, der sich selbst nicht kannte, und wenn man den Schritten Sri Aurobindos folgt, wenn man in "die blinden Alleen des Körpers" hinabsteigt, findet man seltsamerweise alle Geheimnisse der Welt wieder - die ganze Welt ist da!

Das Zeichen, das alle Zeichen erklärt [[Savitri, II.1.97, s.a. H.K. S. 107 ]]

Und ein so wunderbarer Ton, der alle diese Leben verbindet, alle diese gepeinigten Körper, die sich selbst nicht kennen und zuweilen schreien, die diesem würgenden Tod ihren unvergänglichen Ton entreißen, den gleichen Ton, den Beethoven seiner tauben Nacht entriß:

Ein Herz voll Seligkeit inmitten einer Welt von Schmerzen. [[Savitri, II.5.169, H.K. S. 179 ]]

Diese Glückseligkeit war nicht geboren, um immer wieder zu sterben, unsere Körper wissen es besser als wir!

Die Schatten sind auf uns herabgestiegen, sie umhüllen alle - diesen einzigen gepeinigten Körper -, und das Paradox der Hölle hat noch nicht sein göttliches Gesicht enthüllt, aber ohne Zweifel wäre es nötig, daß wir uns dem Herzen der Dinge nähern, und daß man uns den Mantel des Schattens abnimmt - das Geheimnis konnte nicht, kann nicht für einen einzelnen Menschen, für einen einzigen vom Körper der Erde abgetrennten Weisen sein. Es gibt nur eine einzige Zelle, ein einziges strahlendes Zentrum unter diesen Millionen Verkleidungen, die wir Menschen nennen - man ist dabei, uns diese Schale abzureißen, und das geht langsam, es nimmt kein Ende, aber alles ist ins Wanken geraten, und das "Unmögliche" nähert sich unserer "wilden Küste".

Wir finden zwei ergreifende Briefe, die Sri Aurobindo 1915 an Mutter schrieb, als sie noch in Frankreich war, während er "in der Nacht der Materie pflügte":

Die ganze Erde steht nun unter einem Gesetz und antwortet denselben Schwingungen, und ich bin skeptisch, irgendeinen Platz zu finden, wo das Getöse des Kampfes uns nicht verfolgen wird. Jedenfalls scheint eine wirkliche Abgeschiedenheit nicht meine Bestimmung zu sein. Ich muß mit der Welt in Berührung bleiben, bis ich die feindlichen Bedingungen entweder gemeistert habe oder unterliege oder den Kampf zwischen dem Spirituellen und dem Physischen soweit vorangetrieben haben werde, als ich dazu bestimmt bin ...
Man braucht ein ruhiges Herz, einen festen Willen, völlige Selbstverleugnung, und man muß die Augen ständig auf das Jenseits richten, um nicht den Mut zu verlieren, in Zeiten wie diesen zu leben, die wirklich eine Periode universellen Zerfalls sind.
(6.9.1915) [[On Himself, 26:424 ]]

Und wieder 1915, mitten im alten Krieg, der achtzig Jahre später gleicherweise und noch schrecklicher andauert, schrieb er an Mutter:

Nichts scheint die Unbeweglichkeit der Dinge stören zu können, und alles, was außerhalb unserer selbst aktiv ist, ist eine Art Tosen dunkler und düsterer Verwirrung, aus der nichts Geformtes oder Leuchtendes hervorgehen kann. Es ist ein eigentümlicher Zustand der Welt, der Definition des Chaos entsprechend, wobei die äußere Form der alten Welt an der Oberfläche anscheinend intakt bleibt. Aber ist es ein Chaos langer Auflösung oder einer frühen neuen Geburt? Das wird Tag für Tag ausgefochten, bisher ohne jegliche Annäherung an eine Entscheidung. (16.9.1915) [[On Himself, 26:425 ]]

Genau diese Schlacht wird Sri Aurobindo vierzig Jahre lang in seinem Körper liefern, ohne sich entmutigen zu lassen, die Augen auf das Ziel gerichtet, während "die lange Zersetzung" bis in unsere Tage fortdauert. Und man fragt sich, wie diese scheinbar heile Fassade noch halten kann.

Im Dezember 1918, als die Alliierten ihren Sieg feierten, schrieb Sri Aurobindo geduldig in seiner Zeitschrift Arya:

Bis jetzt müssen wir eher die letzte Dämmerung erwarten, welche die sterbende von der ungeborenen Zeit trennt, als die wirkliche Morgenröte. [[War and Self-Determination, 15:597 ]]

Aber es gibt eine neue Morgenröte, sie ist da, fertig vorbereitet unter unseren zurechtgemachten Trümmern, und bald werden wir in diese Prähistorie zurücksteigen, die den Schlüssel zu unserer Geschichte enthält, der all unseren religiösen, atheistischen Jahrhunderten entgangen war und den Sri Aurobindo in seinem eigenen Körper wiedergefunden hatte, als er die vedischen Hymnen las, so wie er Homer gelesen hatte. Es war vor sieben oder zehntausend Jahren, noch vor den dunklen und üppigen Dynastien Ägyptens, die nur das Geheimnis des Todes, aber nicht seine Heilung gefunden hatten.

Webe ein unzerstörbares Werk
Werde zum menschlichen Wesen ...

sagten die vedischen Sänger.

Ja, was wir noch nicht geworden sind, weil wir noch in diesem "menschlichen Übergang" stecken, auf dem Wege sind, durch die Zersetzung von allem, um zur einzigen Sache zu gelangen.

Werde zum menschlichen Wesen,
erschaffe die göttliche Rasse.
Ihr, die Seher der Wahrheit,
schärft das blitzende Schwert,
um den Weg zur Unsterblichkeit zu bahnen.
Kenner der geheimsten Ebenen,
errichtet die Stufen, auf denen
die Götter zur Unsterblichkeit gelangen
. [[Rig-Veda X.53, 5, 19, S. 765, s.a. Das Göttliche Leben, 2. Buch, 2. Teil, S. 160 ]]

Denn in diesem Körper ist das Zeichen von allem - der Welten, der Wege und der Bestimmung.

In unsres Körpers Zellen, da wohnt ungesehen eine Macht,
sie sieht das Unsichtbare, und sie plant die Ewigkeit
[[Savitri, II 5.169, H.K. S. 179 ]]

sagt Savitri.

Wir reihen all die Fäden unserer wissenschaftlichen Chromosomen aneinander, während ein goldener Faden die Jahrhunderte, die Arten und ihr Werden und die Macht, die werden läßt, verbindet.

Aber das wird, unserer selbst zum Trotz. Das Ende eines Stadiums der Evolution wird durch ein machtvolles Wiederaufleben der Elemente, die aus der Evolution verschwinden sollen, gekennzeichnet, [[Karmayogin, 3:347 ]] schrieb Sri Aurobindo. Und wie das herauskommt! Es ist die Selbstverzehrung in großem Maßstab, aber gegessen wird nur, was den Tod will und ihn kultiviert, die Überreste oder der Schutt des alten, aufgehäuften Verfalls kommen aus dieser "finsteren Gruft" heraus, wo sie sich seit Tausenden von Jahren verkrochen hatten - und sie kommen heraus unter dem Druck der Macht selbst, die alle diese Jahrhunderte webte, und die aus unserem schwarzen Kokon zu befreien ein Wesen des Feuers, Sri Aurobindo, den Mut hatte. Wir sind noch nicht geboren, das Leben ist noch nicht, und es zuckt, um seine Puppe besser zu zerbrechen. Und wir werden staunen.

Ich sah sie durch das Zwielicht einer Zeitepoche kommen,
die Kinder mit den Sonnenaugen einer wunderbaren Morgendämmerung,
die großen Schöpfer mit den breiten Stirnen einer Stille,
die mächtigen Zerbrecher der Barrieren dieser Welt,
die mit dem Schicksal ringen in den Weltverzeichnissen des Willens
und in den Steinbrüchen der Götter harte Arbeit leisten,
die Boten aus den Reichen des Nicht-Mitteilbaren,
die Architekten der Unsterblichkeit.
Sie kamen in die Sphäre der gefallnen Menschheit,
Gesichter, die die Glorie des Unsterblichen noch an sich trugen,
Stimmen, die noch mit Gedanken Gottes kommunizierten,
Körper, die schön gestaltet waren durch des Geistes Licht.
Sie brachten das magische Wort und das mystische Feuer
und trugen jenen Kelch der Freude des Dionysos zu uns,
Augen, die eher denen eines göttlichen Menschen glichen,
Lippen, die einen unbekannten Lobgesang der Seele sangen,
Füße, die widerhallten in den Wandelgängen dieser Zeit.
Hohepriester der Weisheit, Süße, Macht und Seligkeit,
sie, die der Schönheit sonnenlichte Wege neu entdecken,
die in der Liebe feurig-lachenden Gewässern schwimmen
und innerhalb der goldnen Tore der Entzückung tanzen.
Ihr Schritt wird eines Tags die leidende Erde verwandeln
. [[Savitri, III.4.343, H.K. S. 353f. ]]

Ja, die letzte Dämmerung ist da - unsere Dämmerung. Aber sie bringt eine Hymne an die Freude und eine neue Geburt des Menschen.

Dieses Mal wird etwas getan werden.