Vorwort:

Das Zeitalter der Abenteuer ist vorbei.

Selbst wenn wir uns bis in die siebente Galaxis begeben, so tun wir das computergesteuert und in einen Raumanzug gewickelt; und nichts ändert sich, wir stehen genauso da wie zuvor: als hilflose Kinder im Angesicht des Todes, als Lebewesen, die sich nicht recht sicher sind, warum und weshalb sie eigentlich leben und wohin es wirklich geht. Was die Erde betrifft, wissen wir nur zu gut, daß die Zeiten eines Cortez oder Pizarro Vergangenheit sind: die gleiche alte Maschinerie erdrückt uns; die gleiche alte Mausefalle steht allenthalben bereit einzuschnappen. Doch wie immer stellt es sich heraus, daß unsere schlimmsten Schwierigkeiten unsere größten Möglichkeiten sind und daß die obskure Übergangszeit, die wir gegenwärtig durchleben, doch nur eine Übergangszeit ist, die zu einem größeren Licht führt. Wir stehen vor einer Wand, am Beginn der letzten Entdeckungsreise, dem letzten Abenteuer, das uns noch bleibt: der Erkundung unserer selbst.

Die Zeichen mehren sich, und ihre Bedeutung liegt auf der Hand. Das bemerkenswerteste Phänomen der sechziger Jahre ist nicht der Trip zum Mond, es sind vielmehr die "Trips" auf Drogen, die weltweiten Studentenunruhen und die Hippy-Bewegung - wohin aber um alles in der Welt könnten sie noch führen? Es gibt keinen Platz mehr auf unseren überfüllten Stränden und keinen Platz mehr in den wachsenden Ameisenhaufen unserer Städte. Der Ausweg liegt anderswo.

Doch es gibt verschiedene Arten von "Anderswo".

Jene der Drogen sind unsicher und voller Gefahren, vor allem aber sind sie abhängig von äußeren Mitteln - es sollte möglich sein, eine Erfahrung willentlich und an gleich welchem Ort zu machen, inmitten eines Einkaufszentrums ebenso wie in der Zurückgezogenheit des eigenen Zimmers, denn ansonsten ist es keine Erfahrung, sondern lediglich eine Anomalie oder eben eine Abhängigkeit.

Jene der Psychoanalyse sind bis jetzt beschränkt auf einige schlecht erleuchtete Kellergewölbe des Unterbewußtseins, vor allem jedoch fehlt ihnen der Hebel des Bewußtseins, der es einem erlaubt, sich frei zu bewegen und Herr seiner selbst zu sein, anstatt sich in die Rolle eines hilflosen Zeugen oder eines Patienten versetzt zu sehen.

Jene der Religion sind eher erleuchtet, aber auch sie sind abhängig von einem Gott oder einem Dogma, vor allen Dingen aber schränken sie uns auf eine Art von Erfahrung ein, denn es ist schließlich genauso gut, ja sogar eher möglich, Gefangener anderer Welten wie Gefangener dieser Welt zu sein.

Letztlich bemißt sich der Wert einer Erfahrung an ihrer Kapazität, das Leben zu verändern, ansonsten ist sie nichts als eine eitle Sinnestäuschung oder ein vergeblicher Traum.

Mit Sri Aurobindo gelangen wir zu einer doppelten Entdeckung, deren wir dringend bedürfen, wenn wir nicht nur einen Ausweg aus dem erstickenden Chaos, in dem wir leben, finden, sondern auch unsere Welt verändern wollen. Folgen wir ihm Schritt für Schritt auf seiner außerordentlichen Forschungsreise - seiner Technik, innere Räume zu erschließen, wenn man so will -, so stoßen wir auf die wichtigste aller Entdeckungen, auf das Große Geheimnis, welches das Gesicht der Welt verändern wird. Es besteht darin zu erkennen, daß Bewußtsein eine Macht ist. Hypnotisiert von den "unumstößlichen" Naturgesetzen, die den modernen Menschen seit seiner Geburt einmauern, glaubt er, daß seine alleinige Hoffnung in der ständig zunehmenden Herstellung und Verbreitung von Maschinen liegt, welche besser sehen, besser hören, besser rechnen, besser heilen können als er - und die schlußendlich vielleicht sogar besser leben werden als er. Zuerst müssen wir der einfachen Tatsache wieder gewahr werden, daß wir mehr können als all unsere Maschinen und Apparate und daß gerade diese gewaltige Maschinerie, die uns erdrückt, ebenso schnell zusammenbrechen kann, wie sie erbaut wurde, vorausgesetzt, wir ergreifen den Hebel wahrer Macht und erkunden unser eigenes Herz, so wie es umsichtige und planvolle Forscher tun würden.

In diesem Falle machen wir vielleicht die überraschende Entdeckung, daß unser prächtiges 20. Jahrhundert kaum mehr ist als ein Steinzeitalter der Psychologie, daß wir, trotz all unserer Wissenschaft, noch nicht auf die wahre Wissenschaft des Lebens gestoßen sind, auf die wirkliche Beherrschung der Welt und unserer selbst, und daß sich vor unseren Augen Horizonte der Vollkommenheit, Harmonie und Schönheit öffnen, im Vergleich zu denen sich unsere stolzesten Entdeckungen und Erfindungen wie krude Dilettantismen eines Lehrjungen ausnehmen.

Satprem

27. Januar 1


Einleitung:

Ich werde zu dem, was ich in mir sehe.
Alles, was das Denken mir eingibt, kann ich tun;
alles, was das Denken mir eröffnet, kann ich werden.
So sollte des Menschen unerschütterlicher Glaube
an sich selbst beschaffen sein, denn Gott wohnt in ihm
.

Es gab einmal vor langer Zeit einen üblen Maharaja, der den Gedanken nicht ertragen konnte, es könne jemand geben, der mächtiger sei als er. So ließ er alle Weisen des Königreiches zu sich rufen, ganz wie es bei bedeutenden Anlässen Brauch war, und stellte ihnen folgende Frage: "Wer von uns beiden ist der Mächtigere, ich oder Gott?" Und die Weisen des Reiches begannen zu zittern. Da sie aber von Berufs wegen weise waren, erbaten sie sich Bedenkzeit; immerhin hatten sie sich doch zu sehr an ihre angesehene Stellung und ihr nacktes Leben gewöhnt, um beides ohne weiteres aufs Spiel zu setzen. Dabei waren es doch aufrechte Männer, die Gott nicht mißfallen wollten. Während sie noch ihr Schicksal beklagten, beruhigte sie der Älteste von ihnen: "Überlaßt die Angelegenheit mir, morgen werde ich mit dem Prinzen sprechen." Am folgenden Tag, als sich des Maharajas Hof zu einem feierlichen durbar versammelt hatte, erschien der alte Weise mit gefalteten Händen und gesenkten Hauptes, seine Stirn zum Zeichen der geleisteten Gebete mit weißer Asche bedeckt. Er verbeugte sich demütig und sprach folgende Worte: "O Herr, es gibt keinen Zweifel; Ihr seid der Größte." Der Prinz zwirbelte dreimal an den Enden seines langen Schnurrbartes und warf sich in die Brust. "Ihr seid der Mächtigere, o Herr, denn ihr seid imstande, uns aus eurem Reich zu verbannen, wohingegen Gott dazu nicht in der Lage ist; denn wahrlich, sein Reich ist überall, und man kann Ihn nirgendwo verlassen."

Diese indische Anekdote, die aus Bengalen stammt, wo auch Sri Aurobindo geboren wurde, war ihm selbst nicht unbekannt - ihm, der zu sagen pflegte, alles ist Er: die Götter, die Teufel, die Menschen, die Erde, und nicht allein der Himmel; und dessen gesamte Erfahrung zu einer göttlichen Rehabilitierung der Materie führte. Während des letzten halben Jahrhunderts war die Psychologie unaufhörlich damit beschäftigt, das Dämonische wieder in den Menschen zu integrieren; es ist möglich, wie André Malraux glaubte, daß die Aufgabe für das nächste halbe Jahrhundert darin liegt, "auch die Götter wieder in den Menschen zu integrieren", oder wie Sri Aurobindo es suchte, den Geist wieder in den Menschen und die Materie mit einzubeziehen und "das göttliche Leben auf Erden zu schaffen": Die jenseitigen Himmel sind herrlich und prachtvoll, prachtvoller und weit herrlicher aber sind die Himmel in dir selbst. Und diese Himmel sind es, die den göttlichen Arbeiter erwarten.

Es gibt viele Wege, dieser Aufgabe gerecht zu werden; tatsächlich hat jeder Mensch dazu seinen eigenen Zugang: dem einen mag es ein kunstvoll gefertigter Gegenstand sein, dem anderen eine gute Idee, ein hohes Ideal, ein umfassendes philosophisches System, wieder einem anderen die Harmonien einer Partitur, der Lauf eines Flusses, ein Durchbruch von Sonnenlicht in einer Wolkendecke über dem Meer - all das sind Möglichkeiten, das Unendliche zu atmen. Aber es sind nur kurze Augenblicke, und wir suchen Permanenz. Es sind flüchtige Momente, die vielen unkontrollierbaren Bedingungen unterliegen, und wir suchen etwas, das unveräußerlich ist, frei von Bedingungen und Umständen - gleich einem Fenster in uns, das sich nicht mehr schließen wird.

Gerade weil diese Bedingungen hier auf der Erde so schwer zu erreichen sind, spricht man von "Gott" oder von "Spiritualität", von Christus oder Buddha und der ganzen Kette von großen Religionsstiftern - all das sind Wege, diese Permanenz zu finden. Aber vielleicht sind wir weder religiös noch spirituell, sondern ganz einfach menschlich und glauben als Menschen an die Erde, sind es gründlich leid zuzuhören, wenn große Worte gemacht werden, sind der Dogmen ebenso müde wie der hochfliegenden Gedanken - vielleicht wollen wir nichts weiter, als daß unser kleiner Strom ins Unendliche fließt. Es gab einmal einen großen Heiligen in Indien, der, bevor er seinen inneren Frieden gefunden hatte, über Jahre und Jahre hinweg allen, die er traf, immer wieder die gleiche Frage stellte: "Habt ihr Gott gesehen? Habt ihr Gott gesehen?" Und jedesmal mußte er enttäuscht und verärgert davonziehen, weil ihm die Leute unglaubliche Geschichten erzählten. Er wollte diesbezüglich einfach nur klar sehen. Dabei lag er gar nicht so falsch mit seinem Anliegen, wenn man all die Lügen bedenkt, welche die Menschen im Laufe der Zeit diesem oder vielen anderen Worten gegeben haben. Hat man einmal wirkliche Erkenntnis erlangt, so kann man darüber sprechen oder weit wahrscheinlicher noch darüber schweigen. Nein, man will sich nichts vormachen oder in die eigene Tasche lügen lassen, und so bleibt eine Überzeugung, von der man ausgehen kann: nämlich mit dem anzufangen, was man hat, genau von dort, wo man steht, und sei das ohne ein Dach über dem Kopf mit beiden Beinen im Dreck und einem kleinen Sonnenstrahl aus besseren Tagen vor Augen. Das, was man um sich sieht, ist fraglos nicht die beste aller möglichen Welten, und man will sehr wohl, daß die Lage sich bessert, aber man steht doch all den allgemeingültigen Allheilmitteln, Bewegungen, Parteien, Theorien nur noch skeptisch gegenüber. Deshalb beginnen wir am Nullpunkt und fangen mit dem an, was vorhanden ist: mit uns selbst. Das ist nicht gerade viel, aber, immerhin, es ist alles, was wir haben, und es ist genau das Stück Welt, das es zu verändern gilt, bevor man anfangen kann, den anderen zu retten. Und vielleicht ist es schließlich keine so schlechte Idee, denn wer weiß, ob den einen zu ändern, nicht auch die beste Methode ist, den anderen zu ändern?

Was kann Sri Aurobindo also, von dieser niedrigen, praktischen Warte aus betrachtet, für uns tun?

Es gibt den Philosophen und den Dichter Sri Aurobindo, und Dichter war er vor allem; es gibt Sri Aurobindo den Visionär der Evolution. Aber nicht jeder ist Philosoph oder Dichter, vom Seher ganz zu schweigen. Vielleicht wären wir schon zufrieden, wenn er uns nur Mittel gäbe, an unsere eigenen Möglichkeiten zu glauben, nicht nur im menschlichen, sondern auch im übermenschlichen und göttlichen Sinne, und nicht nur daran zu glauben, sondern sie auch schrittweise selber zu entdecken und zu sehen, wirklich für uns selbst zu sehen und weit zu werden, so weit wie die Erde, die wir lieben, und so weit wie all die Kontinente und all die Weltmeere, die wir in uns tragen; denn es gibt Sri Aurobindo, den Forscher, der auch Yogin war, aber sagte er nicht: Yoga ist die Kunst der bewußten Selbst-Entdeckung 3? Und eben diese Erforschung des Bewußtseins interessiert uns. Und wenn wir ihr mit ihm nachgehen, mit Aufrichtigkeit, Ruhe und Geduld sowie Mut im Angesicht der vielen Schwierigkeiten, die auf dem Weg liegen - und Gott weiß, er ist uneben genug, dann besteht kein Grund, warum sich nicht eines Tages das Fenster öffnen sollte, damit die Sonne ununterbrochen scheinen kann. Das heißt, nicht eines, sondern viele Fenster, die sich nacheinander öffnen, um jedesmal einen weiteren Blick und eine neue Dimension unseres inneren Reiches freizugeben. Das bedeutet jedesmal eine Veränderung des Bewußtseins, so radikal wie, sagen wir, der Übertritt vom Schlaf in den Wachzustand. Wir umreißen hier die Hauptstufen dieser Bewußtseinsveränderungen, so wie Sri Aurobindo sie erfahren und seinen Schülern in seinem integralen Yoga beschrieben hat, bis zu dem Punkt, an dem sie uns eine neue, noch unbekannte Erfahrung eröffnen, welche die Macht haben könnte, das Leben selbst zu verändern.

Denn Sri Aurobindo ist nicht allein Erforscher des Bewußtseins, er ist auch Baumeister einer neuen Welt. Was hilft es schließlich, das eigene Bewußtsein zu verändern, wenn die Welt so bleibt, wie sie ist? Es erginge einem dann so wie dem König in Andersens Märchen, der sich nackt auf die Straßen seiner Hauptstadt begab. Nachdem Sri Aurobindo zu den äußersten Grenzen von Welten vorgestoßen war, deren Beschreibung man auch in den Überlieferungen alter Weisheiten finden kann, entdeckte er eine andere Welt, die noch auf keiner Karte verzeichnet war. Diese Welt nannte er das Supramental, und er suchte sie hierher auf die Erde zu ziehen. Er lädt uns ein, mitzuziehen und an dieser fabelhaften Geschichte teilzuhaben, vorausgesetzt, wir mögen solche Geschichten. Denn das Supramental bringt, wie Sri Aurobindo sagt, einen entscheidenden Umbruch für die Evolution des Bewußtseins auf der Erde; es ist die Bewußtseinsveränderung, welche die Macht haben wird, eine Transformation der physischen Welt herbeizuführen, und sie wird dies so gründlich und nachhaltig tun - zum besseren, wie wir hoffen - wie es einst das Denken tat, als es zum ersten Mal in lebender Materie auftrat. Wir werden sehen, wie der integrale Yoga zum supramentalen Yoga führt, zum Yoga einer Transformation der Erde, was wir hier versuchen wollen nachzuzeichnen. Es kann nur ein erster Umriß werden, denn die Geschichte ist noch nicht abgeschlossen, sie hat noch Tau auf den Blättern, und längst nicht alle Steine sind aus dem Weg geräumt. Wir sind kaum darüber im Bilde, wohin sie uns führt oder ob sie gelingen wird.

Und im Grunde hängt das ein wenig von uns allen ab.


1. Ein Vollendeter Abendländer

Menschlich steht Sri Aurobindo uns näher, als es zunächst scheint, denn nachdem uns die "Weisheit des Morgenlandes" und all seine seltsamen Asketen, die sich scheinbar so leichtfertig über unsere schönen Naturgesetze hinwegsetzen, gebührend beeindruckt haben, stellen wir fest, daß unsere Neugier davon zwar erregt wurde, unser alltägliches Leben aber unberührt bleibt und daß uns weiterhin eine praktische Wahrheit fehlt, die auch unsere strengen Winter zu überstehen vermag. Und Sri Aurobindo kannte unsere Winter nur zu gut. Er durchlebte sie von sieben bis zwanzig, den prägenden Jahren seiner Erziehung. Dabei zog er von einer Mansarde zur nächsten, der Willkür mehr oder weniger freundlicher Vermieter ausgesetzt, ohne einen Überrock gegen die widrige Witterung und mit nur einer Mahlzeit am Tag, immer aber beladen mit Büchern: die französischen Symbolisten, Mallarmé und Rimbaud, den er, lange bevor er eine Übersetzung der Bhagavat Gita zu Gesicht bekam, im Original las. Sri Aurobindo stellt eine einzigartige Synthese für uns dar.

Er wurde am 15. August 1872 in Kalkutta geboren, dem Jahr der "Illumination" Rimbauds und nur wenige Jahre vor Einstein. Die moderne Physik war in Gestalt Max Plancks bereits ans Tageslicht getreten, und Jules Verne bemühte sich um die Erforschung der Zukunft. Andererseits bereitete sich Königin Victoria darauf vor, "Kaiserin von Indien" zu werden, und die Kolonialisierung Afrikas war noch in vollem Gange - wir stehen am Wendepunkt zweier Zeitalter. In Betrachtung der Geschichte hat man häufig den Eindruck, daß der Geburt einer neuen Welt Perioden von Krisis und Zerstörung vorangehen, aber vielleicht ist das eine Fehleinschätzung, und die Kräfte der Subversion (oder Enttrümmerung) toben, gerade weil der neue Samen bereits geboren ist. Wie dem auch sei, Europa stand auf der Höhe seines Ruhms, und der Spielball des Weltgeschehens lag augenscheinlich im Westen. So jedenfalls erschien es Sri Aurobindos Vater, Dr. Krishnadhan Ghose, der in England Medizin studiert hatte und vollkommen anglisiert in sein Vaterland zurückgekehrt war. Er suchte unter allen Umständen zu verhindern, daß seine Söhne - er hatte mit Sri Aurobindo als Jüngstem derer drei - auch nur im geringsten von jenem "vernebelten und rückschrittlichen" Mystizismus infiziert wurden, welcher seiner Meinung nach sein Land an den Rand des Ruins gebracht hatte. Er ging so weit, ihnen die Sprachen und Überlieferungen Indiens vorzuenthalten. So erhielt Sri Aurobindo nicht nur einen englischen Vornamen (Akroyd), sondern auch eine englische Erzieherin namens Miss Pagett und wurde im Alter von fünf Jahren an eine Schule irischer Nonnen in Darjeeling geschickt, um dort sein Los mit den Söhnen britischer Verwaltungsbeamter zu teilen. Zwei Jahre später verlassen die drei Ghose-Jungen Indien in Richtung England. Sri Aurobindo ist sieben. Er wird bis zum zwanzigsten Lebensjahr warten müssen, um seine Muttersprache, das Bengali, erlernen zu können. Seinen Vater hat er niemals wiedergesehen, da dieser während seiner Rückreise nach Indien starb. Auch seine Mutter bekam er kaum mehr zu Angesicht, da sie erkrankt war und ihn in ihrer Umnachtung nicht mehr wiedererkannte. So sehen wir uns hier einem Kind gegenüber, das vollkommen unabhängig von allen eigenen familiären, nationalen und traditionellen Einflüssen aufwuchs - ein freier Geist. Die erste Lektion, die uns Sri Aurobindo erteilt, ist also eine Lektion der Freiheit.

Er und seine beiden Brüder wurden einem anglikanischen Geistlichen aus Manchester anvertraut mit der strikten Anweisung, daß es ihnen nicht erlaubt sein sollte, die Bekanntschaft von Indern zu machen oder indischen Einflüssen ausgesetzt zu werden 1. Denn Dr. Ghose war ein eigenwilliger Mensch. Er beauftragte Pastor Drewitt ferner, seinen Söhnen keine religiöse Unterweisung zu geben, damit sie, wenn sie es wünschten, bei Erreichen der Volljährigkeit selbst eine Religion wählen könnten. Mit diesem frommen Auftrag überließ er sie für die nächsten dreizehn Jahre ihrem Schicksal. Dr. Ghose mag demnach als hartherziger Mensch erscheinen, und doch war er nichts dergleichen. Er gab nicht nur seine Dienste als Arzt unentgeltlich an die Bedürftigen der bengalischen Dörfer, sondern unterstützte sie auch finanziell (während seine Söhne in London kaum etwas zu essen oder zum Anziehen hatten) und er starb unter dem Schock einer Falschmeldung, daß sein Lieblingssohn Aurobindo bei einem Seenotfall ums Leben gekommen sei. Dr. Ghose war aber der Überzeugung, daß seine Kinder zur Charakterfestigkeit erzogen werden sollten.

Die ersten drei Jahre in Manchester hatten einige Bedeutung für Sri Aurobindo, da er dort als erste Fremdsprache Französisch lernte (denn Englisch war ja seine "Muttersprache") und eine spontane Neigung für die französische Kultur in sich entdeckte: Es gab einen Hang zum englischen und europäischen Denken und zu dessen Literatur, nicht aber zu England als Land. Damit fühlte ich keine Verbundenheit ... wenn es eine intellektuelle oder emotionale Anziehung zu einem europäischen Land als zweiter Heimat gab, so zu einem, daß ich in diesem Leben weder betreten noch zu Gesicht bekommen hatte, und zwar nicht England, sondern Frankreich.2 Der Dichter in ihm begann zu erwachen; er hörte bereits den Gang unsichtbarer Dinge, wie er sich in einem seiner frühesten Gedichte ausdrücken wird, sein inneres Fenster hatte sich bereits geöffnet, obwohl er, wenn man der Beschreibung folgt, die er von seiner "Bekehrung" gibt, wenig von Religion beeindruckt war: Nicht ganz unvorhersehbar war die Mutter des Pastoren Drewitt ausgezogen, die Seelen der drei jungen Ketzer zu retten oder doch wenigstens die des jüngsten, den sie eines Tages einfach zu einer Zusammenkunft von "unkonformistischen" Geistlichen mitschleppte. Nachdem die Gebete gesprochen waren, erzählte Sri Aurobindo, entfernten sich die meisten, und nur die Eiferer blieben zurück. Es war die Zeit der Bekehrungen. Ich langweilte mich zu Tode. Dann näherte sich mir ein Pfarrer und stellte mir Fragen (ich war ungefähr zehn zu der Zeit). Ich gab keine Antwort. Plötzlich riefen sie alle: "Er ist erlöst, er ist erlöst!" und sie begannen für mich zu beten und Gott zu danken.3 Aus Sri Aurobindo dem Seher würde niemals ein Anhänger der Religion werden - in Indien genausowenig wie im Abendland - und er hat sehr häufig betont, daß Religion und Spiritualität nicht notwendigerweise miteinander synonym seien: Wahre Theokratie, schrieb er später, ist das Königreich Gottes im Menschen und nicht das Königreich eines Papstes, einer Kirche oder einer priesterlichen Klasse.4

Im zwölften Lebensjahr, dem Beginn seiner Londoner Zeit, hatte Sri Aurobindo bereits Latein und Französisch gelernt. Der Direktor des St. Paul-Gymnasium, das er besuchte, war so überrascht über seine Begabung, daß er ihn selbst in Griechisch unterrichtete. Drei Jahre später konnte Sri Aurobindo es sich leisten, die Hälfte seiner Fächer zu überspringen, um sich nur noch seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Lesen, zu widmen. Man weiß wirklich nicht, was diesem unersättlichen Jugendlichen entgangen sein könnte (ausgenommen vielleicht das Kricket-Spielen, welches ihn so wenig interessierte wie etwa der Konfirmandenunterricht), aber Shelley und der "Entfesselte Prometheus", die französischen Dichter, Homer, Aristophanes und die ganze europäische Gedankenwelt - er eignete sich schnell ausreichend Wissen in Deutsch und Italienisch an, um Goethe und Dante im Original lesen zu können -, all das bevölkerte die Solitüden seines Geistes, von denen er uns nichts hinterlassen hat. Er suchte, im Gegensatz zu seinem Bruder Mono Mohan, der in Gesellschaft seines Freundes Oscar Wilde durch London streifte und sich in der englischen Dichtung einen Namen machte, nie nach äußeren Bindungen. Faktisch lebte jeder der Brüder sein eigenständiges Leben. Und doch war sein Wesen keines voller Strenge, und er war nichts weniger als ein Tugendwächter oder Sittenrichter (Tugendbolde nannte er diese5); er war einfach nur ganz "anderswo", und seine Welt war reich. Er hatte eine bestimmte Art, mit todernstem Gesicht Spott zu treiben, die ihn niemals verließ: Sinn für Humor? Das ist das Salz des Daseins. Ohne ihn wäre die Welt längst aus allen Fugen geraten - und sie ist schon jetzt reichlich aus den Fugen.6 So gibt es also auch Sri Aurobindo den Humoristen, und als solcher ist er vielleicht wichtiger als der Philosoph, von dem die abendländischen Universitäten so ehrfürchtig sprechen; denn für Sri Aurobindo war Philosophie nichts als ein Mittel zu dem Zweck, sich mit einer bestimmten Art Menschen zu verständigen, die nichts verstehen, ohne daß man es ihnen erklärt; sie war ihm lediglich eine Sprache, so wie ihm die Dichtkunst eine andere, klarere und wahrere war. Aber Humor gehörte zum innersten Kern seines Wesens, nicht der bissige, sarkastische Humor des sogenannten geistreichen Menschen, sondern eine Art innerer Freude, die nicht anders kann, als zu tanzen, ganz gleich, wo sie sich befindet. Mitunter trifft uns ein blitzartiges Verständnis, das uns mit einiger Verblüffung erfüllt, und wir verstehen oder erahnen, daß sich hinter der tragischsten oder quälendsten Situation etwas wie ein liebevoll-spottendes Gelächter verbirgt, als spiele sich ein Kind eine Tragödie vor, nur um sich plötzlich mittendrin selbst eine lustige Grimasse zu schneiden, weil es eine unwiderstehliche Neigung zum Lachen verspürt, denn schlußendlich kann nichts und niemand, keine Macht der Welt, diesen verborgenen, inneren Schlupfwinkel berühren, in welchem wir immer König sind. Vielleicht macht gerade das die wahre Qualität von Sri Aurobindos Humor aus: seine völlige Weigerung, die Dinge tragisch zu nehmen, oder mehr noch, sein Sinn für etwas unveräußerlich Königliches im Menschen.

Ob das St. Paul-Gymnasium Wertschätzung für seine Art von Humor aufbrachte, ist uns nicht erhalten, eindeutig aber bezeugte es diese für sein erstaunliches Wissen, denn man gab ihm, genau zu dem Zeitpunkt, als die Zuwendungen seiner Eltern praktisch aufhörten, ein Stipendium, um nach Cambridge gehen zu können. Trotzdem war dies nicht genug, ihn vor Kälte und Hunger zu bewahren, da seine beiden älteren Brüder reichlich an diesem unverhofften Geldsegen Anteil nahmen. Er war gerade achtzehn. Was aber tat er bloß an dieser Bildungsstätte für Söhne gutbetuchter Eltern? Zweifellos folgte er den Wünschen seines Vaters. Doch nicht mehr für lange. Im ersten Jahr am King's College erntete er alle Preise für lateinische und griechische Dichtkunst, aber sein Interesse hatte sich gewandelt. Es waren jetzt die Jungfrau von Orléans, der Freiheitskämpfer Mazzini und die amerikanische Revolution, die ihn nicht mehr losließen - kurz, es ging ihm um die Befreiung seines Landes, um die indische Unabhängigkeit, für die er einer der Vorkämpfer werden sollte. Diese unvorhergesehene politische Berufung würde ihn gut die nächsten zwanzig Jahre beschäftigen, obwohl damals bei ihm noch einige Unsicherheit darüber herrschte, was ein Inder eigentlich sei, ganz zu Schweigen von einem Hindu! Aber er lernte schnell. So wie er es mit der abendländischen Kultur getan hatte, eignete er sich den Hinduismus in doppelter Geschwindigkeit an. Tatsächlich würde er erst dann wahrlich Sri Aurobindo werden, da er beide Kulturen in sich aufgenommen hatte und ihm jener Schnittpunkt vor Augen kam, an dem sich beide Welten in etwas treffen, was weder die eine noch die andere ist - nicht einmal die Synthese aus beiden - sondern etwas, das wir mit der Mutter, jener, die Sri Aurobindos Werk fortführte, als dritte Position bezeichnen könnten, jenes "Andere", das wir so dringend brauchen; wir, das heißt Menschen, die sich weder in materialistischer Beschränktheit noch in spiritueller Exklusivität zu Hause fühlen.

So wurde er Sekretär der Indian Majlis - einer Vereinigung indischer Studenten in Cambridge - trug mit revolutionären Reden zum feurigen Elan seiner Bundesgenossen bei, warf den jetzt untragbar gewordenen englischen Vornamen über Bord und trat einer Geheimgesellschaft bei, die auf keinen geringeren Namen als "Dolch und Lotos" hörte. (Im Ernst, man muß sich vergegenwärtigen, daß solch jugendliche Romantik einen damals durchaus noch an den Galgen bringen konnte.) Schließlich kam es zu Ermittlungen, und sein Name erschien auf den schwarzen Listen der Regierung in Whitehall. Dessen ungeachtet besteht er leicht seinen Bachelor of Arts für alte Sprachen, läßt sich aber bei der Verleihung der akademischen Grade nicht mehr blicken, als habe er jetzt gründlich davon die Nase voll. Ähnlich beiläufig meldet er sich zu den berühmten Prüfungen des indischen Staatsdienstes, welche ihm gleichberechtigt mit den englischen Beamten die Türen der indischen Regierung geöffnet hätten, und besteht sie mit Bravour. Zu der abschließenden Reitprüfung erscheint er jedoch nicht - es war ihm an dem betreffenden Tag wichtiger, einen Spaziergang zu machen, als in Woolwich etwas vorzutraben -, und damit erreicht der junge Aurobindo seine Disqualifizierung. In der Folge kann sich der für Examenskandidaten zuständige Dekan nicht enthalten, einen Brief an höchste Stellen zu schreiben: "Daß ein Mann dieses Kalibers aufgrund der Tatsache, daß er nicht auf einem Pferd gesessen hat oder weiter eine Verabredung nicht einhielt, der indischen Regierung verloren gehen sollte, erscheint mir, wie ich gestehen muß, als Husarenstreich offizieller Kurzsichtigkeit, der schwer zu überbieten sein dürfte ... Die letzten Jahre waren für ihn eine Zeit der Härte und Entbehrungen. Zuwendungen von zu Hause sind nahezu vollständig unterblieben, und er hatte für seine beiden Brüder genauso Vorsorge zu tragen wie für sich selbst ... Ich habe in seinem Namen wiederholt an seinen Vater geschrieben, hatte aber meistens damit keinen Erfolg. Erst kürzlich gelang es mir, ihm gerade soviel abzuringen, um einige lang ausstehende Rechnungen zu begleichen, während die Gläubiger sich bereits auf dem Wege zum Schuldgericht befanden ..." 7 Die Fürbitten des Dekans verhallten ungehört; die Herren des Kolonialministeriums waren davon überzeugt, daß es sich bei Sri Aurobindo um einen hochgefährlichen Fall handele. Und sie sollten damit nicht Unrecht behalten.

Mit zwanzig Jahren begab sich Sri Aurobindo auf dem Seeweg zurück nach Indien. Sein Vater war gerade verstorben, er selbst hielt weder Stellung noch Titel. Was blieb von seinen dreizehn englischen Jahren? Man ist versucht, sich die klassische Definition von Edouard Herriot in Erinnerung zu rufen, denn, wenn es wahr ist, daß Kultur das ist, was bleibt, wenn alles andere vergessen ist, dann dürften vom Abendland nicht die Bücher, Museen und Theater übrig bleiben sondern allein der Drang, die graue Theorie in lebendige Praxis umzusetzen. Gerade darin liegt ja zweifellos die wirkliche Stärke des Abendlandes. Leider aber verfügen wir über zuviel Scharfsinn, als daß uns nennenswerter Weitblick bliebe, den wir praktisch umsetzen könnten, während Indien nicht anspruchsvoll genug ist, um sein äußeres Leben auf den Stand seiner inneren Einsicht zu bringen. Wie wir sehen werden, lernte Sri Aurobindo beide Seiten dieser Lektion nicht vergeblich.


2. Sanatana Dharma - Das Ewige Gesetz

Unser Proletariat verkommt in Unwissenheit und niederschmetterndem Elend! 1 rief Sri Aurobindo aus, kaum daß er indischen Boden unter den Füßen spürte. Ihm brannten aber keineswegs metaphysische Probleme auf der Seele, ihn beschäftigte vielmehr die Frage der Tat. Er mußte handeln, denn der Mensch steht in der Welt, um zu handeln. Bleibt die Frage nach der Art des Handelns und nach seiner wirkungsvollsten Methode. Von den ersten Schritten auf indischer Erde in den ersten Tagen seiner Ankunft bis in die höchsten Höhen der Verwirklichung im Yoga sollte Sri Aurobindo diese Sorge um praktisches Handeln nicht mehr verlassen.

Ich erinnere mich an ein persönliches Erlebnis im Himalaya, währenddessen ich einige herrliche Tage in Begleitung eines weisen Mannes verbrachte - umgeben von Pinien und Oleander in funkelndem Schnee, weltvergessen zwischen Tälern und Himmel. All das war sehr schön, doch mir wurde klar, wie leicht es sei, auf diesem Dach der Welt göttliche Gedanken oder Visionen von himmlischen Geschehnissen zu hegen, aber was ist unten? Es stellte sich später heraus, daß diese Frage keineswegs falsch war, obwohl ich auch lernte, daß man in körperlicher Unbewegtheit und Stille doch etwas für die Welt tun kann, und zwar sehr viel (wir erliegen leider häufig einer hartnäckigen Verwechslung von Aufregung und Handlung). Und trotzdem, was bleibt uns von unseren himmlischen Augenblicken, wenn wir uns, unseres erhabenen Alleinseins beraubt, in den Niederungen wiederfinden? Hier entsteht eine Illusion, die die vom Hinduismus Begeisterten überprüfen sollten, denn wollten wir lediglich der Welt entfliehen, würde eine kleine Hütte in einem Alpental oder auf einer einsamen Nordseehallig vollkommen ausreichen; denselben Zweck erfüllt ja, ohne besondere Umgebung, schon eine kleine Zelle mit weißgetünchten Wänden - die "Pilgerfahrt zu den Quellen"* hat nichts oder nur wenig mit dem Ganges oder dem Brahmaputra zu tun. Was konnte Indien Sri Aurobindo also geben? Birgt es ein Geheimnis, das auch für ein tatkräftiges Leben von Bedeutung ist?

Liest man Bücher über den Hinduismus, so gewinnt man den Eindruck, es handele sich um eine Art spiritueller Fossilienforschung gespickt mit vielsilbigen Sanskritworten, als sei der Inder ein alles verrätselnder Philosoph, gepaart mit einem heillosen Götzenanbeter. Wenn wir uns Indien allerdings einfach anschauen - nichts weiter, als es von innen her anschauen, ohne es gleich anmaßend in lexikalische Artikel über Hinduismus unterteilen zu wollen (die immer so vollständig daneben treffen wie etwa die einseitige Beschreibung jenes Reisenden, der im Mai Neu-Delhi bereiste und "Indien" als ausgedörrt und sengend heiß empfand; wäre er hingegen im November oder März im Süden oder Westen gewesen und in allen anderen Himmelsrichtungen, hätte er Indien gleichzeitig als kalt, kochend heiß, regendurchtränkt, verwüstet, mediterran und als freundlich mild beschreiben müssen, und sein Kartenhaus der Wettervorstellungen wäre ähnlich zusammengebrochen wie die starren und rein theoretischen Vorstellungen seines "Hinduismus", der so gar nicht existiert, denn Hinduismus ist weder ein Glaube noch ein spiritueller Längengrad; man bestimmt an ihm nicht seinen geistigen Standort, denn er enthält alle nur möglichen Standorte), so entdecken wir vor allen Dingen, daß Indien ein Land grenzenloser geistiger und spiritueller Freiheit ist. Der sogenannte Hinduismus ist eine rein westliche Erfindung. In Indien selbst spricht man lediglich vom "ewigen Gesetz", sanatana dharma, von dem die Inder sehr wohl wissen, daß sie kein Monopol darauf haben, sondern daß es den Moslems, Negern, Christen ebenso angehört wie selbst den Wiedertäufern. Gerade das, was sich dem Abendländer als der wesentlichste Teil seiner Religion darstellt, nämlich die Struktur, das Gefüge, welches sich von allen anderen Religionen unterscheidet und festlegt, daß eine bestimmte Person sich eben nur dann Katholik oder Protestant nennen darf, wenn er oder sie genau so oder auf eine bestimmte andere Weise denkt und sich diesem oder eben jenem anderen Glaubensartikel verschreibt, das ist der Gesichtspunkt, welcher dem Inder am wenigsten bedeutet, er sucht instinktiv von allen äußeren Umständen abzusehen, um seine Mitmenschen an jenem zentralen Punkt wiederzutreffen, an dem alles miteinander verbunden ist.

Diese Weite und Aufgeschlossenheit ist beileibe keine "Toleranz", die ja nur die Kehrseite der Intoleranz ist, sondern die ausdrückliche Einsicht, daß jeder Mensch ein inneres Bedürfnis hat, das man Gott nennen kann oder auch anderswie, und daß er es nötig hat, das zu lieben, was er auf seiner eigenen Ebene und entsprechend der gegenwärtigen Stufe seiner inneren Entwicklung von Gott versteht, wobei der Weg eines Johannes nicht der Weg eines Paulus ist. Daß jedermann zum Beispiel einen gekreuzigten Gott lieben solle, erscheint einem durchschnittlichen Inder als widernatürlich, obgleich er sich mit der gleichen spontanen Hingabe vor Christus verneigen wird wie vor seinem eigenen Ebenbild Gottes. Dabei findet er das Angesicht Gottes ebenso sehr in dem Gelächter Krishnas wie in dem Schrecken von Kali, der Anmut Saraswatis und den Tausenden und Abertausenden von Göttern, die da tanzen in ihrer ganzen regenbogenfarbigen Pracht, mit mächtigen Schnurrbärten oder ohne, frohlockend oder fürchterlich, erleuchtet oder ergriffen von Erbarmen, so wie sie an den überbordenden Türmen der indischen Tempel zu sehen sind. Ein Gott, der nicht des Lächelns fähig ist, wie hätte er ein solch komisches Universum erschaffen können? fragt Sri Aurobindo2. Alles trägt sein Angesicht, alles ist sein göttliches Spiel, schrecklich und schön, so barock wie die Welt selbst. Und dieses Land, so strotzend vor Göttern, ist doch und gleichzeitig das Land eines so unerschütterlichen Vertrauens auf Einheit: "Eins und einzig herrscht er über alle Geburten und alle Kreaturen. Er ist selbst die Urform von allem." (Swetaswatara Upanishad V.5) Aber nicht jeder kann auf einen Schlag ins Absolute eingehen, der Aufstieg ist durch eine reichliche Zahl von Stufen markiert, und jemand, der in der Lage ist, das kindliche Gesicht eines kleinen Idols zu verstehen, und diesem Weihrauch und Blumen darbietet, ist vielleicht nicht fähig, sich in der Stille seines Herzens an die Ewige Mutter zu wenden, während wieder ein anderer es möglicherweise vorziehen wird, alle Formen zu verneinen und sich in die Kontemplation von Dem zu versenken, das keinen Namen trägt. "Gerade so, wie die Menschen zu mir kommen, finden sie meine Aufnahme. Mein ist der Weg, dem die Menschen von allen Seiten folgen", verheißt die Bhagavat Gita (IV.11)*. Wie man sieht, gibt es unter drei Menschen oder drei Millionen ebenso viele Wege, etwas von Gott zu erfassen, man tut also gut daran, nicht dogmatisch zu werden, es sei denn, man abstrahiert und eliminiert bis zu dem Punkt, an dem nichts bleibt als ein cartesisch-calvinistischer Gott, einzig und allumfassend lediglich kraft seiner Beschränktheit und Herzensenge. Oder ist es, daß wir Einheit mit Einförmigkeit verwechseln? In diesem Zusammenhang wird Sri Aurobindo bald folgendes schreiben: Die Vollendung des integralen Yoga wird kommen, wenn jeder Mensch fähig geworden ist, seinem eigenen Weg im Yoga zu folgen, indem er der Entwicklung seiner eigenen Natur in ihrem Auftrieb, das zu werden, was sie überschreitet, nachkommt. Denn Freiheit ist das endgültige Gesetz und die letzte Erfüllung.3

Kein Inder käme jemals auf den Gedanken, zu fragen: "Glauben Sie an Gott?" Diese Frage käme ihm etwa so lächerlich vor wie: "Glauben Sie an CO2?" Er sagt einfach nur: "Versuchen Sie es selbst! Wenn Sie dieser Methode folgen, werden Sie dieses Ergebnis erhalten, wenn Sie jener Methode folgen, werden Sie zu einem anderen, entsprechenden Ergebnis kommen." All die Findigkeit, Gründlichkeit und Präzision, all den Scharfsinn, welchen das Abendland in den letzten beiden Jahrhunderten aufgewandt hat, um physikalische Phänomene zu studieren, hat Indien mit der gleichen Genauigkeit und Strenge in den letzten vier oder fünf Jahrtausenden zur Beobachtung innerer Phänomene entwickelt - für ein Volk von "Schwärmern" hält es einige Überraschungen für uns bereit. Mit etwas Aufrichtigkeit kommen wir schnell zu der Erkenntnis, daß unsere eigene "innere" Forschung, das heißt also unsere Psychologie, unsere Psychoanalyse und unser Wissen über den Menschen, noch in einem embryonalen Stadium steckt, einfach deshalb, weil Selbsterkenntnis nach einer Askese heischt, die soviel Methodik und Geduld und allen Widrigkeiten trotzende Sorgfalt erfordert wie ein eingehendes Studium der Quantenphysik. Wollen wir uns auf diesen Weg machen, ist es lange nicht genug, Bücher zu lesen oder klinische Atteste über die Neurosen einer aus dem Gleichgewicht geratenen Gesellschaft zu studieren, man muß sich selbst voll und ganz einsetzen. Brächten wir die gleiche Aufrichtigkeit und Ausdauer auf, unsere Innenwelten zu studieren, die wir zum Bücherlesen aufbringen, kämen wir schnell vorwärts - dann hätte auch der Westen einige Überraschungen für uns in petto. Allerdings müßte er zuvor von einigen vorgefaßten Meinungen abgehen - Kolumbus hat auch keine Karten des amerikanischen Kontinents verfertigt, bevor er mit seiner Santa Maria aus Palos auslief! Vielleicht lohnt es sich, diese einfachen Wahrheiten zu wiederholen, denn es scheint, als wäre der Westen gleichermaßen zwischen zwei Fehleinschätzungen stecken geblieben: der zu ernsthaften Unwahrheit der Spiritualisten, für die die Frage von Gott ein für allemal in ein paar unfehlbaren Paragraphen ausgemacht ist, sowie der kaum ausreichend ernsthaften Unwahrheit von dilettierenden Okkultisten und Spiritisten, die das Unsichtbare auf ein Monstrositäten-Kabinett der Einbildungskraft zu reduzieren versuchen. Indien besitzt jedoch genügend Weisheit, um zur unmittelbaren Erfahrung und zu experimentellen Methoden zurückzukehren. Sri Aurobindo hatte bald Gelegenheit, diese grundlegende Methode experimenteller Spiritualität anzuwenden.

Was für eine Art Menschen, was für eine menschliche Substanz wird er in diesem Indien vorfinden, einem Indien, das er noch nicht einmal kennt? Wenn man von dem exotischen Lokalkolorit und den (für uns) seltsamen Landesbräuchen einmal absieht, die den Touristen so faszinieren, so bleibt doch etwas Befremdendes. Wenn man sagt, bei den Indern handele es sich um ein liebenswürdiges, verträumtes, schicksalergebenes und weltentsagendes Volk, so beschreibt man damit die Erscheinung, nicht aber das Wesentliche. Es ist deshalb befremdend, weil Inder in ihrer physischen Substanz, ganz spontan und ohne den geringsten "Gedanken" oder "Glauben", in anderen Quellen und Welten verwurzelt sind; sie sind nicht ganz von dieser Welt. Und diese anderen Welten in ihnen treten ständig an die Oberfläche - bei der kleinsten Erschütterung zerreißt der Schleier, bemerkte Sri Aurobindo -, so daß diese physische Welt, so absolut, real und einmalig für uns, ihnen als nur eine Möglichkeit unter vielen anderen innerhalb des gesamten Daseins erscheint; kurz, als eine kleine, chaotische, aufgeregte und ziemlich mühselige Grenze am Rande unermeßlicher Kontinente, die unerforscht dahinter liegen.4 Dieser grundsätzliche Unterschied zwischen den Indern und anderen Völkern tritt am deutlichsten in ihrer Kunst zutage, so wie es bei der ägyptischen Kunst der Fall ist (und, wie ich ohne unmittelbare Kenntnis annehme, auch bei der Kunst Mittelamerikas). Läßt man die offenen und anmutigen Kathedralen des Abendlandes hinter sich, die sich gleich einem Triumphzug göttlicher Gedanken des Menschen emporschwingen, und steht in der Stille von Abydos am Nil plötzlich vor Sekmeth oder hinter der Säulenreihe von Dakshineshwar im Angesicht Kalis, so spürt man sehr wohl etwas: Man steht wie betäubt vor einer unbekannten Dimension, vor "etwas", das uns sprachlos macht und von dem in der abendländischen Kunst kaum etwas zu finden ist. In unseren Kathedralen gibt es keine Geheimnisse zu entdecken! Alles liegt offen, von allen Himmelsrichtungen her zugänglich für jeden, der Augen im Kopf hat - und dabei gibt es so viele Geheimnisse! Es geht hier nicht darum, die Meriten einer Kunstform gegen die einer anderen zu halten, das wäre absurd. Es geht darum zu verstehen, daß wir etwas vergessen haben. Bei den unzähligen Kulturen der Vergangenheit, die an Glanz und Kultur der unsrigen ebenbürtig sind - wenn wir uns zu der Bescheidenheit durchringen können, dies zuzugestehen - und deren Eliten nicht weniger "intelligent" waren als die unserer Universitäten und die sowohl fundiertes Wissen als auch eingehende Erfahrung unsichtbarer Hierarchien besaßen (das heißt unsichtbar für uns), sowie von seelischen Rhythmen, die den kurzen Pulsschlag eines einzelnen Menschenlebens übersteigen - wie kommt es, daß uns noch nicht klar geworden ist, daß es sich hier vielleicht um mehr handelt, als um den albernen Aberglauben alter Damen oder um einfache Geistesverwirrung? Immerhin eine bemerkenswerte Verwirrung, die sich über die Entfernung von Tausenden von Kilometern in Zivilisationen finden läßt, die nichts voneinander gewußt haben können! Es stimmt, das Zeitalter der Mysterien liegt hinter uns, alles ist erfrischend kantisch und aufgeklärt, aber nichtsdestoweniger fehlt etwas. Ein erstes Anzeichen des neuen Menschen wird es vermutlich sein, wenn er einen unerträglichen Mangel in sich verspürt, der sich weder durch seine Wissenschaften noch durch seine Kirchen noch durch seine lärmende Vergnügungssuche befriedigen läßt. Es rächt sich, wenn man den Menschen von seinen Geheimnissen zu trennen versucht. Auch das ist eine lebendige Lehre, die Indien Sri Aurobindo brachte, wenn er sie nicht schon vorher in seinem eigenen Fleisch und Blut verspürte.

Wer indessen annimmt, daß Indien, als das Land, in dem die von alters her überlieferten Mysterien noch lebendig sind, ihm eine praktische Lösung bietet, der riskiert eine Enttäuschung. Sri Aurobindo lernte schnell die Freiheit, geistige Weite und das beeindruckende experimentelle Wissen zu schätzen, das Indien dem Suchenden eröffnet. Jedoch nahm er keinesfalls alles an, was sich ihm darbot - im Gegenteil. Es gab aber auch nichts auszuschließen oder zu verwerfen; es gibt nichts zu verwerfen, nirgendwo, nicht im sogenannten Hinduismus, nicht im Christentum oder bei gleich welchem anderen menschlichen Bestreben, sondern es gilt allein, alles zu erweitern, alles endlos auszuweiten. Das, dem wir uns als letzte Wahrheit verschreiben, ist oft nichts anderes als ein unvollständig erfahrener Teilaspekt der Wahrheit; und zweifellos findet sich die Vollständigkeit der Erfahrung nirgendwo in Raum und Zeit, an keinem Ort und in keinem einzelnen Wesen, ganz gleich wie lichtvoll es auch sein mag, denn die Wahrheit ist unendlich und immer einen Schritt voraus. Man lädt sich ständig eine endlose Last auf, meinte die Mutter einmal in einem Gespräch über den Buddhismus. Man möchte nichts aus der Vergangenheit fallen lassen und stöhnt dann immer mehr unter dem Gewicht einer nutzlosen Anhäufung. Wenn man einen Wegweiser für einen Teil der Wegstrecke hat, so ist das nur gut. Nachdem man aber diesen Abschnitt hinter sich gebracht hat, läßt man eben diesen Teil der Strecke samt dem Wegweiser hinter sich und geht weiter. Das ist eine Sache, die dem Menschen dauernd Schwierigkeiten bereitet; wann immer er etwas zu fassen bekommt, das ihm hilft, hält er daran fest und kann es nicht mehr lassen. Jene, die etwas Fortschritt mit der christlichen Lehre gemacht haben, geben diese ebensowenig auf wie jene, welche der Buddhismus weitergebracht hat, und beide tragen an dieser zunehmenden Last auf ihren Schultern. Das beschwert und macht schrecklich langsam. Habt ihr ein Stadium eures Lebens hinter euch gebracht, laßt es fallen, laßt es zurück! Geht weiter! Es gibt wohl ein ewiges Gesetz, aber eben eins, das ewig jung ist und ewig voranschreitet. Obwohl Indien begriffen hat, was für ein ewiger Bilderstürmer Gott auf seinem kosmischen Vormarsch ist, hatte es doch nicht immer die Kraft, seiner eigenen Wahrheit zu genügen; das "unermeßliche Unsichtbare", von dem dieses Land so durchdrungen ist, fordert von ihm ein zweifaches Lösegeld, sowohl menschlich als auch spirituell. Menschlich, weil dieses Volk, übersättigt mit dem Jenseits, sich wohl des großen kosmischen Spiels und seinen inneren Dimensionen bewußt ist, vor denen sich unser äußeres Leben auf einen Punkt an der Oberfläche reduziert und dort kurz aufblüht, um bald wieder verschluckt zu werden. Demgegenüber vernachlässigte und vergaß es aber die Materie: Trägheit, Resignation und Indifferenz gegenüber dem Fortschritt waren die Folge, selbst wenn diese oft unter der Maske der Weisheit auftraten. Der zweite, spirituelle Tribut wog weit schwerer, denn in dieser Unermeßlichkeit, die für unser gegenwärtiges, begrenztes Bewußtsein nicht zu fassen ist, ging die Bestimmung der Erde, unserer Erde, an den Grenzen des Universums, irgendwo zwischen Galaxien und Schwarzen Löchern oder gar im Nirgendwo verloren, reabsorbiert im Großen Brahman, aus dem sie vielleicht nie hervorgetreten ist, außer in unseren Träumen - die Illusionen, Trancen, Selbst-Versenkungen der Yogins wurden leider nur zu oft mit dem wahren Antlitz Gottes verwechselt. Es ist deshalb von höchster Bedeutung, zu einer klaren Bestimmung des Ziels zu gelangen, welches dem religiösen Inder vorschwebt, um ein besseres Verständnis davon zu erhalten, was Indien uns zu geben oder nicht zu geben vermag. Uns, das heißt denjenigen, die nach einer ganzheitlichen, integralen Wahrheit suchen.

Gleich zu Beginn sehen wir uns mit einem überraschenden Widerspruch konfrontiert. Indien ist ein Land, das eine große Offenbarung hervorgebracht hat: "Alles ist Brahman", heißt es da, alles ist Geist, also ist auch diese Welt Geist, ebenso wie diese Erde, diese Menschen und dieses Leben - es gibt nichts, was außer Ihm ist. "All das ist unsterblich Brahman, nichts anderes; Brahman steht vor uns, Brahman liegt hinter uns und erstreckt sich von uns aus gen Süden und gen Norden und unter uns und über uns. Es erstreckt sich überall hin. All das ist allein Brahman, das ganze herrliche All." (Mundaka Upanishad II.12) Damit sind wir von der Zweiteilung, die die Welt zwischen Gott und Teufel zu zerreißen drohte, endgültig geheilt - als müßte man permanent zwischen Himmel und Erde wählen und könnte nie, außer in verstümmeltem Zustand, Erlösung finden. Praktisch allerdings verhält sich die religiöse Geschichte Indiens der letzten drei Jahrtausende, als gäbe es einen wahren Brahman - himmlisch transzendent, unbewegt, erhaben über dieses Affentheater - und einen falschen Brahman oder wenigstens (und hier beginnen die verschiedenen Schulen Haare zu spalten) einen minderen Brahman, eine Zwischenwirklichkeit, die mehr oder weniger fragwürdig ist, nämlich das Leben, die Erde, unser kläglicher Lehmklumpen Erde: "Verlaßt diese Welt der Illusion," rief der große Shankara aus*. "Brahman ist wahr, die Welt ist eine Lüge", bestätigt die Niralamba Upanishad: brahma satyam jaganmithya. Trotz allem guten Willen ist nicht einzusehen, durch welche Entstellung oder Nachlässigkeit aus "Alles ist Brahman" jemals "Alles, mit Ausnahme der Welt, ist Brahman" werden konnte.

Lassen wir einmal die großen Heiligen Schriften beiseite - der menschliche Verstand ist verschlungen genug, sich Schloß Sanssouci als Entsorgungspark vorzustellen oder Berlin gevierteilt zu denken - und wenden wir uns Indiens praktischen Disziplinen zu, so trifft uns der Widerspruch in noch schärferer Form. Die indische Psychologie gründet sich auf die einsichtige Beobachtung, daß alles im Universum, vom Mineral bis zum Menschen, aus drei Elementen oder Eigenschaften (gunas) besteht, die sich - wenn auch, je nach der Ordnung der Wirklichkeit, auf die man sich bezieht, vielleicht unter anderem Namen - in allem auffinden lassen: tamas, das heißt Trägheit, Unklarheit, Bewußtlosigkeit; rajas oder Bewegung, Kampf, Anstrengung, Leidenschaft, Tat; und sattva oder Licht, Harmonie, Freude. Nirgendwo existiert eins dieser drei Elemente im Reinzustand; jeder unserer Zustände enthält demnach ein gewisses Maß an Trägheit, Leidenschaft und Licht; zum Beispiel der sattvo-tamasische Zustand, gutmütig aber etwas dickfellig, gewissenhaft und doch noch leidlich bewußtlos; oder der sattvo-rajasische Zustand, feurig aufsteigend; oder der tamaso-rajasische, leidenschaftlich abfallend. Meistens jedoch bestehen wir aus einer phantastischen dreifachen Mischung. Selbst durch das finsterste tamas scheint noch Licht - leider aber trifft das Gegenteil auch zu. Wir befinden uns, mit anderen Worten, ständig in einem delikaten Gleichgewichtszustand; der Krieger, der Asket und das Vieh teilen sich fröhlich und in wechselnder Maßgabe unser Innerstes als Behausung. Die verschiedenen indischen Disziplinen suchen deshalb das Gleichgewicht zu stabilisieren, der Affektenlotterie der drei gunas zu entkommen, die uns ohne Ende zwischen Licht und Dunkel, Klarheit und Unklarheit, Enthusiasmus und Erschöpfung, bleierner Teilnahmslosigkeit, flüchtigen Freuden und wiederholtem Leiden hin- und herwirft. Erst ein Auftauchen aus diesem leidigen Spiel gibt uns Gelegenheit, eine ausgeglichene Haltung zu erreichen und in einem vollkommenen Gleichgewichtszustand das göttliche Bewußtsein (yoga) wiederzuerlangen. Zu diesem Zweck versuchen die verschiedenen Disziplinen, uns dem täglichen Trott von Zerstreuung und Energieverschleiß zu entwöhnen und eine Konzentration herzustellen, die stark genug ist, unsere gewöhnlichen Grenzen zu sprengen und uns in einen anderen Zustand zu versetzen. Diese Arbeit der Konzentration oder inneren Sammlung kann auf jeder Ebene unseres Wesens vor sich gehen - der physischen, der vitalen und der mentalen Ebene, d.h. der Ebene des Körpers, der Ebene der Lebens-, Gefühls- und Willenskräfte und der Ebene des Denkens, des Verstandes und der Vernunft. Je nach der Ebene, welcher wir den Vorrang geben, kommen verschiedene Yoga-Arten in Betracht: hatha yoga, raja yoga und mantra yoga nebst unendlich vielen anderen Arten, die den Fortgang unserer Bestrebungen kennzeichnen. Es geht uns hier nicht darum, den hervorstechenden Wert einzelner Methoden zu erörtern oder bemerkenswerte Zwischenergebnisse, zu denen sie führen können, zu referieren; wir untersuchen lediglich ihren Zweck und ihre letztliche Bestimmung. Nun, bei Licht besehen, scheint diese abgeklärte "über den Dingen stehende Haltung" überhaupt keine Beziehung zum wirklichen Leben zu haben. Erstens stellen all diese Disziplinen ungeheuere Anforderungen, verlangen täglich Stunden um Stunden stetigen Bemühens, wenn nicht sogar vollkommene Abgeschiedenheit, und zweitens ist ihr schlußendliches Ergebnis ein Zustand von Trance oder yogischer Ekstase, samadhi oder vollkommenes Gleichgewicht und unbeschreibliche Wonne, in welchem die eigene Wahrnehmung und das Bewußtsein der Außenwelt völlig verschwinden. Brahman, der absolute Geist, hat also allem Anschein nach überhaupt nichts mit unserem alltäglich gewohnten Wachbewußtsein zu tun. Er steht außerhalb von allem, was uns wissentlich zugänglich ist. Er ist nicht von dieser Welt. Das sagten allerdings andere, die keine Inder waren.

Tatsächlich haben alle Religionen der Welt so gesprochen. Und ob man dabei von "Heil" und "Erlösung" spricht wie im Westen, von "Befreiung" oder mukti wie im Osten, ob wir es Paradies nennen oder das Ende des Kreislaufs der Wiedergeburten, macht dabei keinen Unterschied, denn letztlich geht es nur um eines: um das Rauskommen. Doch die Dinge lagen nicht zu allen Zeiten so kläglich. Zwischen dem Ende des Zeitalters der Mysterien und dem Auftreten der großen Religionen hat sich sowohl im Okzident als auch im Orient eine Kluft aufgetan. Ein bestimmtes Wissen, das nicht diesen kolossalen Unterschied zwischen Gott und der Welt machte, geriet in Vergessenheit - ein Wissen, von dem alle Überlieferungen, alle Legenden alter Kulturen Zeugnis ablegen können. Der Konflikt zwischen Materie und Geist ist eine neuzeitliche Erfindung, die sogenannten Materialisten sind, ob legitim oder nicht, schlicht und ergreifend die Nachfahren der Spiritualisten, so wie "verlorene", d.h. verschwenderische Söhne mitunter von geizigen Vätern gezeugt werden. Die frühen Upanischaden, die drei- oder viertausend Jahre zurückreichen und selbst nur das Erbe des älteren Veda antreten, sahen Gott überall in diesem "wunderbaren Universum" offenbart. In den späten Upanischaden ist das Geheimnis bereits verloren gegangen - verloren nicht nur in Indien, verloren in Mesopotamien, in Ägypten, in Griechenland und in Mittelamerika. Eben dieses Geheimnis sollte Sri Aurobindo wiederentdecken; vielleicht gerade deshalb, weil sich in ihm die reinste geistige Tradition des Abendlandes mit der tiefsten spirituellen Sehnsucht des Morgenlandes verbinden konnte. Ost und West, schreibt er, betrachten das Leben aus zwei unterschiedlichen Perspektiven, von zwei entgegengesetzten Seiten einer Realität. Zwischen der pragmatischen Wahrheit, die das vitale Denken des modernen Europas in seiner Vorliebe für ein tatkräftiges Leben - dem großen Tanz Gottes in der Natur - so vehement und ausschließlich betont, und der ewig unveränderlichen Wahrheit, an die das indische Denken sich in seiner Vorliebe für Ruhe und Ausgeglichenheit mit der gleichen leidenschaftlichen Suche nach einer ausschließlichen Lösung wendet, besteht kein solcher Streit, keine so krasse Trennung, wie sie heute von einem partialen Denken, einer separierenden Vernunft und der verzehrenden Leidenschaft eines ausschließlich auf Verwirklichung gerichteten Willens proklamiert wird. Der Geist ist die eine ewige, unveränderliche Wahrheit, und ohne den Geist hätte die pragmatische Wahrheit eines sich-selbst-erschaffenden Universums keinen Ursprung und keinen Grund; sie wäre aller Bedeutung ledig und ohne innere Führung in ihren Zweck verstrickt, ein Feuerwerk, das ins Leere geschossen wird und mitten in der Luft verlischt. Und doch ist die pragmatische Wahrheit kein Wahn des Nicht-Existenten, keine Illusion oder langes Abgleiten in ein nichtiges Delirium der schöpferischen Einbildungskraft; das hieße aus dem Geist des Ewigen einen Trunksüchtigen oder einen Traumtänzer zu machen, der an den gigantischen Wahnbildern seiner selbst einen Narren gefressen hat. Die Wahrheiten universeller Existenz sind von zweifacher Art: zum einen die Wahrheiten des Geistes, die in sich selbst ewig und unwandelbar sind, und diese sind es, die sich in den Prozeß des Werdens hinausschleudern und dort fortwährend ihre Mächte und ihren Sinn verwirklichen, und zum anderen das Spiel des Bewußtseins mit ihnen, mit den Dissonanzen, den musikalischen Variationen, dem Ausloten der Möglichkeiten, den fortschreitenden Notationen, Reversionen, Perversionen, aufsteigenden Konversionen in ein integrales Leitmotiv der Harmonie. Aus all dem machte und macht der Geist fortwährend das Universum. Aber er selbst ist es, der sich darin schafft. Er ist der Schöpfer und die Energie seiner Schöpfung und die Ursache und die Methode und die Wirkung seines Schaffens. Er ist der Maschinist und die Maschine, der Musiker und die Musik, das Gedicht und der Dichter. Er ist das Supramental, das Mental, das Leben und die Materie, die Seele und die Natur.5

Doch es genügte Sri Aurobindo nicht, Geist und Materie auf dem Papier miteinander zu verbinden. Ob Geist von dieser Welt oder nicht von dieser Welt ist, macht schließlich keinen wesentlichen Unterschied, wenn das Wissen um den Geist im Leben nicht mit der Beherrschung und Meisterung des Lebens einhergeht:

Denn Wahrheit und Wissen sind ein eitler Glanz,

Bringt das Wissen nicht Macht, die Welt zu verändern.6

Das verlorene Geheimnis war keine graue Theorie, sondern wirkliche Macht des Geistes über die Materie. Genau dieses praktische Geheimnis hat Sri Aurobindo Schritt für Schritt wiederentdeckt, indem er sich sowohl über seine abendländische Erziehung als auch über die hinduistische religiöse Tradition hinwegsetzte, denn es ist wahr, daß das Wesentliche dann deutlich wird, wenn alles andere vergessen ist.


3. Das Ende des Intellekts

Sri Aurobindo hatte dreizehn Jahre benötigt, um den westlichen Weg zu durchlaufen; fast noch einmal so lange würde er brauchen, um den indischen Weg zu absolvieren und den "Gipfel" traditioneller Verwirklichungen im Yoga zu erreichen: das heißt, um zum Ausgangspunkt seiner eigenen Arbeit zu gelangen. Was uns vor allem daran interessiert, ist, daß Sri Aurobindo auch diesen traditionellen Weg, sozusagen als Vorbereitung, außerhalb aller Norm zurücklegt - als Freischärler, wenn man so will, oder mehr noch als Forscher, der sich keinen Funken um besondere Landkarten oder Vorsichtsmaßregeln kümmert und der sich einfach deshalb langwierige Umwege erspart, weil er den Mut hat, mit ganzer Kraft voranzuschreiten. So beginnt er die Reise nicht in Abgeschiedenheit, im Lotossitz oder zu Füßen eines erleuchteten Meisters, sondern so, wie wir selbst beginnen würden, ohne besondere Vorkenntnisse und mitten im alltäglichen Leben - ein so zerstreutes und hektisches Leben, wie es das unsere sein mag -, und er tat es auf eigene Faust. Sein erstes Geheimnis besteht zweifellos in der kategorischen Weigerung, das Leben in zwei Teile zu spalten - dynamische Handlung und meditative Versenkung, das Innen und das Außen und die ganze Palette unseres falschen Schwarz-Weiß-Denkens. Von dem Tag an, da er sich mit dem Yoga zu beschäftigen begann, gehörte für ihn alles dazu, höhere und niedere Beweggründe, Innen und Außen, alles ist ihm gleich gut, und er bricht auf, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Sri Aurobindo ist nicht gekommen, um außergewöhnliche Eigenschaften in einem außergewöhnlichen Milieu vorzuweisen, sondern er ist gekommen, um zu zeigen, was menschenmöglich ist, um zu beweisen, daß das Außergewöhnliche nichts weiter ist als eine Gewohnheit, die man noch nicht gemeistert hat; gleich dem Übernatürlichen, wie er einmal schreibt, das von einer Natur ist, die wir noch nicht erreicht haben oder die wir noch nicht kennen oder deren Mittel wir noch nicht bezwungen haben.1 Im Grunde ist alles in der Welt eine Frage der richtigen Konzentration: Es gibt nichts, was einer wohlangewendeten Konzentration nicht schließlich nachgeben würde.

Als er nach der Ankunft seines Schiffes am Apollo Bunder in Bombay an Land ging, überraschte ihn spontan eine spirituelle Erfahrung, eine unermeßliche Ruhe überkam ihn. Aber es galt auch, für andere Dinge Sorge zu tragen: sich um Nahrung und das eigene Überleben zu kümmern. Sri Aurobindo war zwanzig. Er fand Arbeit als Professor für Französisch und später Englisch beim Maharaja von Baroda an dem gleichen staatlichen College, an dem er bald Vizepräsident werden sollte. Darüberhinaus hielt er beim Prinzen die Position eines Privatsekretärs. Zwischen dem Prinzenhof und seinem College hatte er ausgiebig zu tun, aber es waren vor allem anderen die Geschicke seines Landes, die ihn eigentlich beschäftigten. Er unternahm häufig Fahrten nach Kalkutta, informierte sich über die politische Lage und schrieb verschiedene skandalöse Artikel. Nicht genug, daß er die englische Königin Victoria in ihrer Eigenschaft als "Kaiserin von Indien" als eine alte Dame, die man aus Gründen der Höflichkeit so nennt 2, titulierte, er rief seine Landsleute ferner dazu auf, das britische Joch abzuwerfen, und attackierte die Bettelpolitik der indischen Kongress-Partei auf das Schärfste: Keine Reformen! Keine Kollaboration! Sein Ziel war es, die gesamten Kräfte der Nation zu bündeln und auf revolutionäres Handeln hin zu organisieren. Dies muß einige Courage erfordert haben, denn man schrieb das Jahr 1892, eine Zeit, zu der die Briten ihre Herrschaft über Dreiviertel der Welt ausgebreitet hatten. Sri Aurobindo jedoch hatte eine besondere Art, das Problem anzugehen. So wandten sich seine Angriffe nicht direkt gegen die Engländer, sondern gegen die Inder selbst: Unser tatsächlicher Feind ist nicht etwa eine Macht außerhalb unserer selbst, sondern unsere eigene jämmerliche Schwäche, unsere Feigheit und unsere trübsichtige Rührseligkeit! 3 Eines der vorherrschenden Leitmotive von Sri Aurobindo zeichnet sich bereits ab: Sowohl im politischen als auch im spirituellen Kampf und unter allen Umständen heißt er uns, mit der Suche nach den Ursachen unseres Unglücks und all dem Elend der Welt bei uns selbst anzufangen, und nicht außen und anderswo: Äußere Umstände sind lediglich die Konsequenz von dem, was wir sind, sagt die Mutter, die an seiner Arbeit später teilhaben wird. Sri Aurobindo muß bald einsehen, daß zündende Leitartikel allein nicht ausreichen, einem Land wieder Selbstbewußtsein zu geben. So konzentriert er sich auf Untergrundaktivitäten, die ihn an den Rand des Galgens bringen. Über dreizehn Jahre lang spielt Sri Aurobindo mit dem Feuer.

Und trotz alledem war dieser bemerkenswerte junge Mann weder rastlos noch fanatisch: "Sein Lächeln war einfach das Lächeln eines Kindes, so sanft und so klar," schrieb sein Bengali-Lehrer, der zwei Jahre mit ihm zusammenlebte, denn selbstverständlich hatte Sri Aurobindo damit begonnen, seine Muttersprache zu lernen. Und mit entwaffnender Naivität fügte der Lehrer hinzu: "Bevor ich Sri Aurobindo traf, hatte ich mir immer eine verwegen-stählerne Gestalt vorgestellt, von Kopf bis Fuß makellos europäisch gekleidet, mit scharfen Augen hinter der Brille, einem gräßlichen Cambridge-Akzent und einem außerordentlich schwierigen Charakter ... Wer hätte nun gedacht, daß dieser sonnengebräunte, junge Mann mit sanftmütigen, verträumten Augen, lang gewelltem, in der Mitte gescheiteltem und bis in den Nacken fallendem Haar, in einen ganz gewöhnlichen, grob gewebten Ahmedabad-dhoti, ein eng sitzendes indisches Jackett und altmodische Lederpantoffeln mit aufgestülpten Vorderspitzen gekleidet und mit einem geringfügig von Pocken gezeichneten Gesicht, daß eben dies kein anderer war als Mister Aurobindo Ghose, ein wandelnder Fundus für moderne und klassische Sprachen?"

Sri Aurobindo war mit seiner Lektüre also noch nicht am Ende, der Schwung des Westens machte sich noch bemerkbar; er verschlang kistenweise aus Bombay und Kalkutta bestellte Bücher: "Aurobindo hatte die Angewohnheit", fuhr sein alter Lehrer fort, "bis ein Uhr morgens an seinem Schreibtisch zu sitzen und sich, ohne auch nur im mindesten von den unerträglichen Moskitostichen Notiz zu nehmen, beim trüben Lichte einer Öllampe in seine Bücher zu vertiefen. Ich sehe ihn vor mir, unbeweglich über Stunden in der gleichen Position, seine Augen fest auf die Seiten geheftet, gleich einem Yogin, der sich in der Kontemplation des Göttlichen verloren hat, vollkommen achtlos gegenüber allem, was um ihn herum geschah. Und wenn das Haus in Flammen aufgegangen wäre, hätte dies nicht ausgereicht, seine Konzentration zu brechen." Englische, französische, russische und deutsche Romane defilierten so an ihm vorbei, dazu in ständig zunehmender Zahl die heiligen Schriften Indiens: die Upanischaden, die Bhagavat Gita, das Ramayana, obwohl er nie, außer zur Ansicht, auch nur einen Fuß in einen Tempel gesetzt hatte. "Eines Tages, nach seiner Rückkehr aus dem College", erinnerte sich ein Freund, "ließ er sich nieder und nahm wahllos ein Buch aus einem großen Stapel. Er begann zu lesen, während Z. und einige andere sich lautstark über eine Partie Schach machten. Nach einer halben Stunde legte er das Buch beiseite und trank eine Tasse Tee. Wir hatten den Vorgang häufig beobachtet und warteten begierig auf eine Gelegenheit zu prüfen, ob er die Bücher von Anfang bis Ende durchlas oder nur die Seiten überflog und hier und da einige eingehendere Stichproben vornahm. So begannen wir mit dem Test. Z. öffnete das zuletztgelesene Buch an einer beliebigen Stelle, las eine Zeile laut vor und ersuchte Sri Aurobindo, das Folgende anzugeben. Dieser konzentrierte sich einen Augenblick und wiederholte dann die gesamte Seite ohne einen einzigen Fehler. Wenn er also hundert Seiten in einer halben Stunde so vollkommen assimilieren konnte, so war es kein Wunder, daß er in der Lage war, eine ganze Büchertruhe in so unglaublich kurzer Zeit zu verarbeiten." Doch Sri Aurobindo begnügte sich nicht mit den Übertragungen der heiligen Schriften, er übte sich im Studium des Sanskrit und tat dies bezeichnenderweise ganz in eigener Regie: Immer, wenn er auf ein Problem stieß, das als schwierig oder unlösbar galt, verließ er sich nicht auf das Urteil anderer, und seien es auch Gelehrte, Pandits [Weise] oder Geistliche, sondern beharrte darauf, die Sache selbst in Angriff zu nehmen. Diese Methode muß etwas für sich haben, denn er lernte auf diese Weise nicht nur Sanskrit, sondern entdeckte einige Jahre später die in Vergessenheit geratene Bedeutung der Veden*.

Es kam jedoch der Tag, an dem Sri Aurobindo von der intellektuellen Gymnastik gründlich genug hatte. Zweifellos wurde ihm plötzlich klar, daß man bis ans Ende der Zeiten fortfahren könne, Berge an Wissen in sich aufzutürmen, zu lesen und zu lesen, weitere Sprachen zu lernen, selbst alle Sprachen der Welt, wenn man will, und aus allen Büchern, die es gibt, ohne dabei auch nur einen Millimeter voranzukommen. Denn das Mental sucht in keiner Weise nach Erkenntnis, auch wenn es noch so den Anschein haben mag - es sucht nur danach, zu mahlen wie eine Mühle. Sein Bedürfnis nach Wissen ist primär ein Bedürfnis, etwas zum Mahlen zu haben. Sollte die Mechanik einmal aussetzen, zum Beispiel weil ein bestimmtes Wissen gefunden wurde, würde es bald einen Aufstand verursachen und sich wahllos etwas suchen, das es weitermahlen kann. Denn das ist schließlich seine Aufgabe. Jener Teil von uns, der wirklich nach Wissen und Erkenntnis sucht, ist nicht der Verstand, das Mental, sondern etwas, das dahinter liegt und sich seiner bedient: Der entscheidende Abschnitt meiner intellektuellen Entwicklung, vertraute Sri Aurobindo später einem Schüler an, kam, als mir klar wurde, daß alles, was der Intellekt aussagte, richtig sein konnte oder falsch sein konnte, daß das, was der Intellekt rechtfertigte, wahr war und daß das Gegenteil genauso wahr war. Ich ließ auf der Verstandesebene niemals eine Wahrheit gelten, ohne sie nicht gleichzeitig auch ihrem Gegenteil offenzuhalten ... Die erste Folge dieser Erkenntnis war, daß der Intellekt in diesem Licht sein Prestige verlor! 4

Sri Aurobindo war an einem Wendepunkt angelangt; Tempel interessierten ihn nicht, und Bücher hatten ihren Gehalt verloren. Ein Freund gab ihm den Ratschlag, es mit Yoga zu versuchen, doch Sri Aurobindo weigerte sich: Ein Yoga, der von mir verlangt, die Welt aufzugeben, ist nichts für mich.5 Und er fügte erklärend hinzu: Eine weltabgeschiedene Erlösung, welche die Welt ihrem Schicksal überließ, erschien mir als geradezu widerwärtig.6 Nach dieser Versicherung wurde Sri Aurobindo eines Tages Augenzeuge eines ungewöhnlichen, wenn auch in Indien häufig auftretenden Vorfalls; oft ist ja ein banales Ereignis der beste Auslöser für eine innere Erkenntnis. Sein jüngerer Bruder Barin war an einem starken Fieber erkrankt (Barins Geburt fiel in die Zeit von Sri Aurobindos Lehrjahren in England; er war es auch, der später in der Organisation indischer Widerstandskämpfer in Bengalen als Sri Aurobindos Geheimbote fungieren sollte). Einer jener halbnackten, wandernden Mönche, die man in Indien naga-sannyasin nennt, kam des Weges, die Haut mit Asche bestrichen. Er begab sich zweifellos, wie es Brauch war, von Tür zu Tür und bettelte um Nahrung. Dabei gewahrte er Barin, der über und über in Decken gewickelt war und vom Fieber geschüttelt wurde. Wortlos erbat er sich ein Glas Wasser, schlug ein Zeichen, intonierte ein mantra und gab dem Kranken zu trinken. Fünf Minuten darauf war Barin geheilt, und von dem Mönch blieb außer der heilsamen Wirkung keine Spur zurück. Natürlich hatte Sri Aurobindo schon von den seltsamen Kräften dieser Asketen gehört, doch jetzt sah er etwas Derartiges zum ersten Mal mit eigenen Augen. Und ihm dämmerte schlagartig, daß Yoga anderen Zwecken dienen konnte als jenen der Weltflucht. Und an anderen Zwecken war ihm kein Mangel. Es bedurfte einer Kraft zur Befreiung Indiens: Der Agnostiker war in mir, der Atheist war in mir, der Skeptiker war in mir, und ich war mir nicht einmal sicher, ob es überhaupt einen Gott gab ... Ich hatte lediglich das Gefühl, daß es irgendwo in diesem Yoga eine mächtige Wahrheit geben mußte ... Als ich mich schließlich dem Yoga zuwendete und beschloß, ihn zu üben, um herauszufinden, ob es mit dieser Idee seine Richtigkeit habe, so geschah das in folgendem Geist und mit folgendem Gebet zu Ihm: "Gibt es Euch, so kennt Ihr mein Herz. Ihr wisset, daß es mich nicht nach mukti [Befreiung] verlangt. Ich bitte um keines der Dinge, nach denen es andere verlangt. Ich bitte um nichts als die Stärke, diese Nation zu erheben, ich bitte allein darum, daß es mir gestattet sei, für dieses Volk, das ich liebe, zu leben und zu arbeiten ..." 7

Und so machte sich Sri Aurobindo auf den Weg.


4. Das Schweigen des Mentals

Gedankengebäude

Die erste Stufe in Sri Aurobindos Yoga, die gleichzeitig den Schlüssel für eine ganze Reihe von Verwirklichungen bildet, ist mentales Schweigen. Warum aber den Verstand still werden lassen, mag man fragen? Dabei ist es einleuchtend, daß man, um eine neue Welt in sich entdecken zu können, erst die alte hinter sich lassen muß - alles hängt von der Entschiedenheit ab, mit der man diesen ersten Schritt wagt. Es kann einen wie ein Blitz treffen, etwas in einem, das aufschreit: "Genug der Mühle!" Damit hat man ein für allemal den Anfang gefunden und macht sich auf, ohne auch nur einmal zurückzublicken. Andere sagen Ja-Nein und schwanken endlos unschlüssig zwischen beiden Welten hin und her. Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, es handelt sich hier nicht darum, ein mühsam erarbeitetes Gut sinnlos wieder von sich zu werfen im Namen von was weiß ich für einer Friede-Freude-Weisheits-Glückseligkeit (es geht auch nicht darum, mit hehren, hohlen Worten um sich zu werfen); wir sind nicht auf der Suche nach Heiligkeit, sondern auf der Suche nach Jugend - der ewigen Jugend sich beständig entwickelnder Wesen - es geht uns nicht um ein minderes Dasein, sondern um ein besseres Dasein, vor allem um ein weiterreichendes und umfassenderes: Ist euch noch nicht aufgefallen, daß sie, wenn sie wirklich nach etwas Kaltem, Finsteren und Schwermütigen als höchstem Gut suchten, dann nicht Weise wären sondern Esel? 1, bemerkte Sri Aurobindo einmal mit einem Augenzwinkern.

In der Tat macht man die verschiedensten überraschenden Entdeckungen, sobald die mentale Mechanik einmal stillsteht. Als erstes stellt man fest, daß wenn die Fähigkeit zu denken eine bemerkenswerte Gabe ist, die Fähigkeit, nicht zu denken,2 eine umso größere ist; jeder nach anderem Strebende möge es nur einige Minuten versuchen, und er wird schnell merken, an welchem Holz er sich erwärmt. Er wird feststellen, daß er bis dahin einem trügerischen Spektakel anheimgefallen ist, einem erschöpfenden, aber niemals erschöpften Tumult, in dem nichts Platz hat als seine Gedanken, seine Gefühle, seine Triebe, seine verschiedenen Anwandlungen und Reaktionen - er und ständig nur er, dieser aufgeblasene Gnom, der sich in alles einmischt, alles verschleiert, der nichts versteht als sich selbst, nichts sieht und kennt als sich selbst (wenn überhaupt), dessen ewiggleiche Geschichten die Illusion des Neuen nur deshalb vorspiegeln können, weil sie sich untereinander abwechseln. In einem gewissen Sinne sind wir nichts anderes als eine Masse komplexer mentaler, nervlicher und physischer Gewohnheiten, die durch einige herausragende Leitgedanken, Sehnsüchte und Assoziationen zusammengehalten werden - ein Amalgam vieler kleiner, sich wiederholender Kräfte mit einigen wenigen ausschlaggebenden Grundschwingungen.3 Vom achtzehnten Lebensjahr an also, könnte man sagen, sind wir auf einen feststehenden Satz von Grundschwingungen fixiert. Danach werden die Ablagerungen dieses ewiggleichen Satzes sich mit tausend verschiedenen Gesichtern - die wir Kultur nennen, oder "uns selbst" - in endlosen Runden um jenes Grundgefüge gruppieren, in immer dichter schließenden, mehr und mehr polierten und verfeinerten Schichten. Wir sind in einer Struktur gefangen - ob aus Blei und ohne jegliches Oberlicht oder hochaufgeschossen wie ein Minarett, so sind wir doch, wie auch immer aufgeregt darin kreisend und schwirrend, nichtsdestoweniger gefangen: Menschen also, in einer Haut aus Granit oder eingeschlossen in ein gläsernes Standbild. Die erste Aufgabe im Yoga ist es, frei zu atmen. Das bedeutet konkret, diese Blende des Mentals, das Netz des Denkens, das nichts passieren läßt als eine bestimmte Art der Schwingung, zu zerreißen, um die regenbogenfarbene Unendlichkeit der Schwingungen zu entdecken, das heißt, schließlich die Welt und die Menschen so, wie sie wirklich sind, und auch ein anderes "Selbst", dessen Wert weit über die Einschätzungen des Verstandes hinausreicht.

Aktive Meditation

Setzt man sich mit geschlossenen Augen hin, um das mentale Schweigen herzustellen, wird man zunächst von einem Schwall von Gedanken überschwemmt - sie kommen unvermutet wie aufgeschreckte oder angriffslustige Ratten überall zum Vorschein. Es gibt hier keine neunundneunzigundeine Methoden, diesem verwirrenden Aufstand ein Ende zu bereiten, sondern nur einen einzigen Weg: es immer und immer wieder geduldig und hartnäckig zu versuchen, und vor allem niemals dabei den Fehler zu machen, gedanklich mit dem Denken zu kämpfen - unsere Aufmerksamkeit muß verlagert werden. Jeder von uns trägt jenseits des Verstandes oder tief in sich ein Bestreben, eine Aspiration, genau das nämlich, was uns auf den Weg gebracht hat: eine Sehnsucht unseres eigentlichen Wesens, eine Parole, ein Losungswort, das nur für uns eine besondere Bedeutung hat. Wenn wir uns daran halten, läßt sich die Aufgabe leichter bewältigen, denn anstelle einer negativen nehmen wir eine positive Haltung ein - und je häufiger wir unsere Losung wiederholen, desto machtvoller wird sie. Für manche mag es ein Bild sein wie das eines unermeßlichen Ozeans, dessen Oberfläche nicht der leiseste Windhauch trübt. Man schwimmt darauf, treibt dahin, wird zu dieser ruhigen Unermeßlichkeit. So erlernen wir nicht nur das Schweigen sondern auch die Ausweitung des Bewußtseins. Tatsächlich bleibt nichts, als daß jeder seinen eigenen Weg findet, und je weniger innere Spannung man dabei mitbringt, desto schneller wird man sein Ziel erreichen: Man mag auf diesen Zweck hin mit dieser oder jener Methode beginnen, die normalerweise einer längeren Bemühung bedarf, und wird plötzlich, oft schon gleich zu Beginn, von einer jähen Intervention oder Offenbarung von Stille ergriffen, deren Wirkung in keinem Verhältnis zu den anfangs eingesetzten Mitteln steht. Man beginnt mit einer bestimmten Methode, doch die Arbeit wird von einer höheren Gunst aufgenommen, von genau Dem, zu welchem man strebt, oder von einem Ausbruch der Unendlichkeiten des Geistes. Auf diese letztgenannte Art gelangte ich selbst zum vollkommenen Schweigen des Mentals, mir unvorstellbar, bevor ich tatsächlich die Erfahrung machte.4 Wir treffen hier auf einen wichtigen Punkt. Es kann leicht der Eindruck entstehen, daß alle diese yogischen Erfahrungen ja ganz gut und schön, sogar interessant sind, aber auch, daß sie weit abseits jeglichen gewohnten menschlichen Begriffs liegen. Also wie sollten wir, bitte schön, so wie wir sind, jemals dort hingelangen? Der Fehler bei dieser Fragestellung liegt darin, daß man mit seinem gegenwärtigen Selbst Möglichkeiten beurteilt, die einem anderen Selbst angehören. Yoga bewirkt - durch die einfache Tatsache, daß man sich auf den Weg gemacht hat - das spontane Erwachen eines ganzen Bereichs von verborgenen Eigenschaften und nicht sichtbaren Kräften, die absolut über die Möglichkeiten unseres äußeren Wesens hinausgehen und die uns zu Dingen befähigen, die uns normalerweise nicht zugänglich sind: Es ist notwendig, die Verbindung zwischen dem äußeren Verstand und etwas im inneren Wesen wiederherzustellen ... denn das yogische Bewußtsein und seine Kräfte befinden sich bereits in dir.5 Und der einfachste und beste Weg, die Verbindung "wiederherzustellen", ist, das Denken zum Schweigen zu bringen. Wir wissen als Menschen kaum, wer wir sind, und weniger noch, wozu wir tatsächlich fähig sind.

Aber meditative Exerzitien liefern nicht die wirkliche Lösung des Problems (obwohl sie zu Beginn für den ersten Antrieb ihre Berechtigung haben), denn wir mögen zwar ein relatives Schweigen erreicht haben, doch sobald wir die Nase aus unserem Zimmer oder unserer Klausurstätte stecken, fallen wir in den gewohnten Zustand des Aufruhrs zurück und damit in die gewohnte unsinnige Trennung von innerem und äußerem Selbst, dem "gemütvollen" Innenleben im Gegensatz zu dem "seelenlosen" äußeren. Uns fehlt die Ganzheit des Lebens, wir bedürfen der Wahrheit unseres Wesens jeden Tag und jeden Augenblick, nicht allein an besonderen Feiertagen oder in einsamer Abgeschiedenheit. Und genau die tradierte hochseligmachende Andacht in idyllischer Umgebung bringt uns dort nicht hin: Wir könnten uns in unserer spirituellen Abgeschiedenheit abkapseln und es später schwierig finden, triumphierend nach außen zu strömen und unsere inneren Errungenschaften der höheren Natur auf das äußere Leben anzuwenden. Versuchen wir dann das äußere Königreich zu unseren inneren Errungenschaften hinzuzufügen, so finden wir uns zu sehr an eine rein subjektive und ineffektive Tätigkeit auf der materiellen Ebene gewöhnt. Es wird eine besondere Schwierigkeit geben, das äußere Leben und den Körper zu verwandeln. Desgleichen könnten wir feststellen, daß unser Handeln nicht dem inneren Licht entspricht: es folgt noch dem altgewohnten falschen Trott, gehorcht noch den gewöhnlichen, unvollkommenen Einflüssen; die Wahrheit in uns bleibt durch eine schmerzliche Kluft von der stupenden Maschinerie der äußeren Natur getrennt ... Es ist, als lebten wir in einer anderen, einer weiträumigeren und subtileren Welt und hätten die materielle und irdische Welt nicht im Griff, weder in einem himmlischen, noch in sonst einem anderen.6 Die einzige Lösung ist deshalb, sich genau dort in mentalem Schweigen zu üben, wo es scheinbar am schwierigsten sich anläßt: im Straßenverkehr, in der U-Bahn, bei der Arbeit und überall im Leben. Anstatt viermal am Tag wie von allen Hunden gehetzt den Kurfürstendamm entlang zu hasten, läßt sich das gleiche mit der einfachen, ruhigen Bewußtheit des Suchenden tun. Anstatt man-weiß-nicht-wie zu leben, zerstreut in einer Vielzahl von Gedanken, an denen nichts interessant ist und die so enervierend sind wie eine Schallplatte mit Sprung, kann man die losen Enden seines Bewußtseins sammeln und arbeiten - jeden Augenblick an sich arbeiten. Damit erhält das Leben plötzlich eine ungeahnte Bedeutung und Faszination, denn das kleinste Detail, das geringste Problem bietet Gelegenheit zur Überwindung - man ist orientiert, man geht in eine bestimmte Richtung, anstatt nirgendwohin.

Denn Yoga ist keine Art zu handeln sondern eine Art zu sein.

Der Übergang

Wir sind also auf der Suche nach einem anderen Land. Aber, um es gleich zu sagen, zwischen dem einen, das wir hinter uns lassen, und dem anderen, auf das wir zusteuern, liegt die mühsame Strecke durch ein Niemandsland: eine je nach unserer Entschiedenheit mehr oder weniger lange Phase der Herausforderung. Dabei wissen wir, daß seit unsäglichen Zeiten - angefangen von den asiatischen, ägyptischen und orphischen Einweihungen bis zur Gralssuche - die Entwicklung des Menschen von Herausforderungen begleitet wurde. Früher waren sie romantischer Art, und - mein Gott - was ist schon so umwerfend daran, sich zum Spiel der Querpfeifen in einem Sarkophag versiegeln zu lassen oder seine eigenen Bestattungsriten am Scheiterhaufen zu zelebrieren! Heute stehen wir vor öffentlichen Sarkophagen und vor Leben, die zu reinen Bestattungszeremonien geworden sind. Es gibt also genug Grund, sich um einen Ausstieg zu bemühen. Darüberhinaus, wenn man genau hinsieht, gibt es nicht gerade viel zu verlieren.

Die Hauptschwierigkeit in der Übergangszeit ist die innere Leere. Nach dem gewohnten Zustand fieberhafter Verstandestätigkeit fühlt man sich plötzlich wie ein Wiedergenesender, etwas verloren und mit einem befremdenden Widerhall im Kopf, als wäre unsere Welt gräßlich laut und ermüdend. Man ist überempfindlich, hat das Gefühl, überall anzustoßen, nur noch mit undurchsichtigen und aggressiven Gestalten aneinanderzugeraten, auf schwere Gegenstände zu treffen und sich in gewalttätige Geschehnisse verwickelt zu sehen - kurz, die Welt erscheint einem als ungeheure Absurdität. Dies ist ein sicheres Zeichen dafür, daß die Verinnerlichung begonnen hat. Versucht man jedoch, sich durch Meditation bewußt in sein Inneres zu versenken, steht man gleichfalls vor einer Leere, vor etwas wie einem dunklen Brunnenschacht oder einem gestaltlosen Nicht-beteiligt-Sein; beharrt man darauf, tiefer zu dringen, kommt es leicht vor, daß einen plötzlich der Schlaf übermannt, für zwei, drei, zehn Sekunden, zwei Minuten, manchmal mehr. Dabei ist das kein gewöhnlicher Schlaf; man ist einfach in einen anderen Bewußtseinszustand hinübergeglitten, aber es gibt noch kein Bindeglied zwischen beiden, und man hat beim Verlassen dieses anderen Zustandes kaum den Eindruck, irgendwie weitergekommen zu sein. Dieser Zwischenzustand führt leicht zu einer Art von absurdem Nihilismus - es gibt nichts außen, aber genausowenig etwas innen. Nachdem man seine Gedankengebäude umgestoßen hat, ist jetzt Vorsicht geboten, um sich nicht in einer falschen Innerlichkeit hinter anderen Konstruktionen zu verrennen - seien sie absurder, illusionistischer, skeptischer oder selbst rebellischer Natur. Man muß weitergehen. Hat man mit dem Yoga begonnen, kommt es darauf an, koste es was es wolle, bis zum Ende durchzuhalten, denn verliert man einmal den Faden, kann es geschehen, daß man ihn nicht mehr wiederfindet. Und genau das ist die Herausforderung. Der Suchende muß nur verstehen lernen, daß er im Begriff ist, zu etwas anderem geboren zu werden, und daß seine neuen Augen, seine neuen Sinne natürlich anfangs, wie bei einem Neugeborenen, das gerade auf die Welt kommt, noch nicht voll ausgebildet sein können. Das ist keine Minderung des Bewußtseins, sondern der Übergang zu einem neuen Bewußtsein: Der Kelch des Wesens muß leer und rein sein, damit der göttliche Nektar sich darin ergießen kann.7 Unter diesen Umständen bleibt als einzige Lösung, sich an sein Bestreben zu halten und es wachsen und wachsen zu lassen, gerade weil es an allem so ungeheuer mangelt - gleich einem Feuer, in das wir unsere abgetragenen Sachen nebst unserer Vergangenheit, unseren überkommenen Ideen und unseren durchlebten Gefühlen schleudern können, allein mit dem unerschütterlichen Glauben, daß es hinter dem Durchgang eine Tür gibt, die sich öffnen wird. Und dieser Glaube ist nicht absurd, es handelt sich nicht um den Wahn Leichtgläubiger sondern um ein Vor-Wissen, etwas in uns, das vor uns weiß, das vor uns sieht und uns diese Vision und dieses Wissen in Gestalt eines Bedarfs, einer Suche, eines unerklärlichen Glaubens an die Oberfläche schickt. Glaube, sagt Sri Aurobindo, ist eine Intuition, die nicht nur auf bestätigende Erfahrung wartet, sondern zu Erfahrung führt.8

Das Herabkommen der Kraft

Nach und nach füllt sich die Leere. Man macht eine Reihe von Beobachtungen und Erfahrungen von erheblicher Bedeutung. Es wäre falsch, diese in logischer Reihenfolge vorzustellen, denn in dem Augenblick, in dem man die alte Welt verläßt, stellt man fest, daß alles möglich ist, und darüber hinaus, daß es niemals auch nur zwei vollkommen übereinstimmende Fälle gibt - hier liegt der Fehler aller spirituellen Dogmatismen. Wir können also nur einige Grundlinien der Erfahrung andeuten.

Ist der Verstand einmal verhältnismäßig ruhig gestellt, wenn nicht sogar ganz zum Schweigen gebracht, und unser Bestreben oder unser Bedarf gewachsen, gefestigt und brennend wie ein unstillbarer Durst, so trifft man auf ein Phänomen, das für den weiteren Yoga unabsehbare Konsequenzen haben wird. Man spürt um den Kopf und besonders in der Gegend des Nackens etwas wie einen ungewohnten Druck, der einem den Eindruck falscher Kopfschmerzen vermitteln kann. Anfangs ist das schwer auszuhalten, man schüttelt und lockert sich, lenkt sich ab, "denkt an etwas anderes". Allmählich nimmt der Druck eine bestimmtere Form an, und man spürt geradezu einen herabkommenden Strom - einen Kraftstrom, nicht wie ein unangenehmer elektrischer Strom, sondern wie ein massiver Fluß. Damit wird klar, daß der "Druck", die falschen Kopfschmerzen, die man zu Beginn verspürte, einfach durch den Widerstand entstehen, den man der herabkommenden Kraft entgegensetzt. Einzige Abhilfe bietet es, den Fluß nicht zu blockieren, das heißt, den Strom nicht schon im Gehirn aufzuhalten, sondern ihn von Kopf bis Fuß durch alle Schichten des eigenen Wesens passieren zu lassen. Der Strom ist zunächst sprunghaft und unregelmäßig; eine gewisse Anstrengung des Bewußtseins ist erforderlich, um bei seinem Verschwinden die Verbindung wiederherstellen zu können. Doch nach einiger Zeit fließt der Strom stetig und von allein; man hat sich an ihn gewöhnt. Er gibt einem das sehr angenehme Gefühl einer frischen Energie, gleich einem zweiten Atem, weitreichender und umfassender allerdings als der unserer Lungen, er umgibt uns, badet uns, erleichtert uns und erfüllt uns zugleich mit Festigkeit. Die physische Wirkung entspricht ziemlich genau der, die man verspürt, wenn man mit dem Wind läuft. Eigentlich bemerkt man die Wirkung erst gar nicht, denn sie kommt stufenweise, in kleiner Dosierung. Erst wenn man sich aus dem einen oder anderen Grunde von dem Strom abtrennt, sei es aus Versehen, weil man sich ablenken läßt oder aus Übermüdung nach einem Exzeß, dann fühlt man sich schlagartig eingeengt und leer, als leide man an plötzlicher Atemnot gepaart mit dem sehr unangenehmen Eindruck physischer Verhärtung: gleich einem alten Apfel, aus dem man allen Saft und Sonnenschein herausgepreßt hat. Und man fragt sich, wie man vorher ohne das leben konnte. Hiermit haben wir eine erste Umwandlung unserer Energien erreicht. Anstatt aus der gewohnten Quelle zu schöpfen, also von unten oder von den universellen Lebenskräften um uns herum, schöpft man von oben. Und dabei handelt es sich um eine viel klarere und anhaltendere Energie, ohne Brüche und mit einem erheblich höheren Maß an Dynamik. Im Alltag - inmitten aller Arbeit und den tausend Dingen, die zu erledigen sind - hat der Kraftstrom zunächst eine ziemlich abgeschwächte Wirkung. In dem Augenblick aber, in dem wir innehalten und uns zu konzentrieren beginnen, durchströmt uns eine massive Flut. Alles kommt zum Stillstand. Man wird gleich einem bis zum Rand gefüllten Gefäß davon voll. Wenn der Körper gleichsam von Kopf bis Fuß durch eine Masse an Energie aufgeladen wird, die sowohl von großer Dichte als auch von kristalliner Klarheit ist, verschwindet selbst der Eindruck des "Stroms" (ein fester, kühler Block Frieden 9 heißt es bei Sri Aurobindo); und wenn sich unsere innere Sicht zu öffnen beginnt, finden wir alles in einen Hauch von Blau getaucht. Man gleicht einem Aquamarin und ist weit, so weit - ruhig, ohne das kleinste Kräuseln, die kleinste Welle. Und diese unbeschreiblich erquickende Frische! Man badet wahrhaftig direkt an der Quelle. Denn diese "herabkommende Kraft" ist die eigentliche Kraft des Geistes - Shakti. Spirituelle Kraft ist nicht nur ein Wort. Und schließlich ist es nicht mehr nötig, die Augen zu schließen und sich von der Oberfläche zurückzuziehen, um sie zu spüren; sie wird in jedem Augenblick des Lebens gegenwärtig, in jeder Sekunde, gleich, was man tut, ob man ißt, ob man liest, ob man spricht; und man wird sehen, daß sich ihre Intensität in dem Maße steigert, in dem sich unser Organismus an sie gewöhnt; tatsächlich handelt es sich um eine ungeheure Masse an Energie, die durch nichts beschränkt wird als durch die Begrenztheit unserer Aufnahmefähigkeit.

Sprechen die Ashram-Schüler in Pondicherry von ihrer Erfahrung mit dieser herabkommenden Kraft, so nennen sie sie "die Kraft von Sri Aurobindo und der Mutter". Darunter ist nicht zu verstehen, daß diese Shakti ein persönlicher Besitz von Sri Aurobindo oder der Mutter wäre, die Schüler geben damit lediglich spontan der Tatsache Ausdruck, daß dafür in keiner anderen Yoga-Richtung ein Äquivalent besteht. Wir stoßen hier in greifbarer Weise auf den fundamentalen Unterschied zwischen dem integralen Yoga von Sri Aurobindo (purna yoga) und den anderen Yoga-Arten. Übt man sich vor derjenigen Sri Aurobindos in anderen Yoga-Methoden, stößt man auf einen grundlegenden praktischen Unterschied: Nach Ablauf einer bestimmten Zeit macht man die Erfahrung einer aufsteigenden Kraft, die in Indien kundalini genannt wird und die durchaus brutal am unteren Ende der Wirbelsäule einsetzt und sich Schicht um Schicht erhebt, bis sie den Scheitelpunkt erreicht, um sich von dort in eine leuchtende und strahlenförmige Schwingung zu entfalten, die von einem Gefühl der Grenzenlosigkeit begleitet wird (und nicht selten ebenfalls von einer Bewußtlosigkeit, die man landläufig als Ekstase bezeichnet), als hätte man nun ein ewiges Jenseits erreicht. All jene Verfahren des Yoga, die man wärmeerzeugend nennen könnte, also die asanas des Hatha-Yoga, die Konzentrationsübungen des Raja-Yoga sowie Atemübungen oder pranayamas usw., beinhalten das Erwecken dieser aufsteigenden Kraft. Man durchläuft diese Verfahren jedoch nicht ohne Gefahr und tiefgreifende Störungen, weshalb in ihrem Fall auch der Schutz und die persönliche Präsenz eines erleuchteten Meisters unabdingbar werden. Wir kommen später auf dieses Thema zurück. Der Unterschied in der Richtung des Stromes, aufsteigend oder herabsteigend, weist auf einen Unterschied in der Zielsetzung, der nicht genügend betont werden kann. Die traditionellen Formen des Yoga und, wie wir annehmen, auch die religiösen Disziplinen des Abendlandes zielen im wesentlichen auf eine Bewußtseinsbefreiung ab: Das gesamte Wesen fühlt sich in aufsteigender Bewegung in höhere Sphären gehoben, es versucht über die bloßen Erscheinungen hinauszugelangen und sich in höchsten Höhen mit ekstatisch-friedlicher Erhabenheit freizuhalten. Von daher das Erwachen der aufsteigenden Kraft. Wie wir aber gesehen haben, liegt das Ziel Sri Aurobindos nicht nur im Aufsteigen, sondern auch im Herabkommen, es besteht eben nicht allein zu dem Zweck, sich salbungsvoll in ewigem Frieden zu ergehen, sondern um auf dem Boden der harten Tatsachen das Leben und die Materie zu verändern, zu transformieren, angefangen mit dem Nächstliegenden: mit dem beschränkten Leben, das man lebt, und dem Stück Materie, aus dem man besteht. Von daher das Erwachen oder besser die Antwort der herabkommenden Kraft. Unsere Erfahrung mit dem herabkommenden Kraftstrom ist die Erfahrung der Kraft der Transformation. Diese Kraft wird den Yoga für uns durchführen, vorausgesetzt wir lassen es zu. Sie ersetzt unsere schnell erschöpften Energien ebenso wie unsere oft fehlgehenden Bemühungen. Sie beginnt dort, wo andere Yoga-Arten aufhören. Sie erleuchtet den Scheitel unseres Wesens, um von dort Schicht um Schicht herniederzukommen: sanft, friedlich, unwiderstehlich. Es bleibt noch zu beachten, daß Sie niemals gewalttätig vorgeht. Ihre Macht ist erstaunlich maßvoll dosiert, als befände sie sich unter der direkten Führung der Weisheit des Geistes. Sie ist es auch, die unser gesamtes Wesen bis in die untersten Schichten allumfassend machen wird. Darin liegt in nuce die Grunderfahrung des integralen Yoga. Sobald der Frieden begründet ist, kann diese höhere oder Göttliche Kraft von oben herabkommen und in uns arbeiten. Sie beginnt im allgemeinen mit dem Kopf und befreit die inneren Verstandeszentren, dann kommt das Herzzentrum ... dann der Nabel und die folgenden Vitalzentren ... danach die Region um das Kreuzbein und tiefer ... Sie arbeitet gleichzeitig sowohl für Vollkommenheit als auch für Befreiung; sie nimmt Stück für Stück die gesamte Natur auf und unterfängt es, das abzuweisen, was es abzuweisen gilt, das zu sublimieren, was es zu sublimieren gilt, das zu schaffen, was es zu erschaffen gilt. Sie integriert, harmonisiert, begründet einen neuen Rhythmus in der Natur.10

Eine neue Art von Erkenntnis

Mit dem mentalen Schweigen eröffnet sich ein anderes Phänomen von höchster Bedeutung, das schwieriger zu erkennen ist, denn es erstreckt sich oft über viele Jahre und ist anfangs kaum auszumachen; man könnte es als das Auftreten einer neuen Art von Erkenntnis, oder besser, als das Eintreten in eine neue Art von Erkenntnis bezeichnen, die zu einer neuen Art des Handelns führt.

Es ist vorstellbar, daß man einen Zustand mentalen Schweigens erlangt, während man durch eine Menschenmenge geht, während man etwas ißt, während man sich anzieht oder sich ausruht. Aber wie verhält sich das gleiche zum Beispiel bei der Arbeit, im Büro oder in einer Diskussion mit Freunden? Hier sind wir gezwungen nachzudenken, uns zu erinnern, uns um neue Ideen zu bemühen, kurz eine ganze Reihe mentaler Mechanismen in Bewegung zu setzen. Die Erfahrung zeigt jedoch, daß es sich hier nicht um eine unausweichliche Notwendigkeit handelt, sondern lediglich um das Resultat einer langen evolutionären Gewohnheit, die uns mehr und mehr dazu gebracht hat, uns in Bezug auf Erkenntnis und das Handeln ganz auf den Verstand zu verlassen. Aber da es sich lediglich um eine Gewohnheit handelt, läßt diese sich ändern. Im Grunde ist also der Yoga nicht so sehr eine Form des Lernens, sondern eine Form des Verlernens von einer Summe angeblich unvermeidbarer Gewohnheiten, die wir aus unserer animalischen Evolution mit in das Menschsein übernommen haben.

Bemüht sich der Suchende während der Arbeit um mentales Schweigen, so durchläuft er dabei verschiedene Stadien. Anfangs wird er sich von Zeit zu Zeit seiner Bestrebung erinnern und seine Arbeit für einige Augenblicke unterbrechen, um sich wieder auf die richtige Wellenlänge einzustellen, bis dann aufs neue alles wieder in der täglichen Routine versinkt. In dem Maße aber, in dem er sich anderswo, auf der Straße oder bei sich zu Hause, dieser Mühe unterzieht, entwickelt sein Bemühen eine Eigendynamik, und es erweckt inmitten andersartiger Aktivitäten mehr und mehr seine Aufmerksamkeit - die Erinnerung funktioniert immer besser. Danach beginnt die Wirkungsweise der Erinnerung, sich stufenweise zu verändern. An Stelle einer willentlichen Unterbrechung, mit der er sich wieder auf den richtigen Rhythmus einstellt, bemerkt der Suchende etwas, das in ihm, im Hintergrund seines Wesens lebt, etwas einer gedämpften Schwingung Gleiches. Es ist nichts weiter nötig, als in sein Bewußtsein zurückzutreten, damit sich augenblicklich die Schwingung des Schweigens wieder einstellt. Er wird entdecken, daß sie gegenwärtig, ständig gegenwärtig ist, gleich einer blaßblauen Tiefe im Hintergrund, er kann sich darin nach Belieben zurückziehen, sich inmitten allen Aufruhrs und aller Scherereien entspannen und trägt in sich einen unantastbaren Zufluchtsort voller Frieden.

Bald wird diese Hintergrundschwingung stärker und deutlicher, beständiger, der Suchende spürt, wie sich in seinem Wesen eine Trennung herausbildet: einerseits die schweigende Tiefe, die im Hintergrund schwingt und vibriert, andererseits die hauchdünne Oberfläche, auf der sich alle Aktivitäten, Gedanken, Gesten und Worte abwickeln. Er entdeckt den Zeugen in sich und läßt sich immer weniger von dem äußeren Spiel in Anspruch nehmen, das einem Polypen gleich ununterbrochen versucht, uns bei lebendigem Leibe zu verschlingen. Es handelt sich hier um eine Entdeckung, die so alt ist wie der Rig-Veda selbst: "Zwei Vögel, Freunde und Kameraden, mit den prächtigsten Flügeln, sitzen im selben Baum, und der eine ißt die süße Frucht, und der andere betrachtet ihn und ißt doch nicht" (I.164.20). In diesem Stadium wird es leichter, zunächst vorsätzlich einzugreifen, um die alten, oberflächlichen Gewohnheiten mentaler Überlegung, Erinnerung, Berechnung und Vorausplanung durch die Gewohnheit zu ersetzen, sich schweigend auf die schwingende Tiefe zurückzubeziehen. Praktisch gesprochen, wird dies zu einer langen Übergangsperiode mit Rückschlägen und Fortschritten (tatsächlich entsteht jedoch weniger der Eindruck von Rückschlägen und Vorankommen, sondern eher von etwas, das sich abwechselnd verschleiert und entschleiert), während die beiden Prozesse einander die Stirn bieten. Die alten intellektuellen Mechanismen versuchen sich ständig einzumischen, sie reklamieren ihre alte privilegierte Position; kurz, sie versuchen, uns davon zu überzeugen, daß es ohne sie nicht geht, und profitieren hierbei besonders von einer gewissen Trägheit, in der es weit bequemer erscheint, weiter so vorzugehen "wie gewohnt". Doch die Arbeit des Sich-Abkoppelns wird einerseits durch die Erfahrung der herabkommenden Kraft unterstützt, die selbsttätig und unermüdlich die eigenen vier Wände in Ordnung bringt und auf die rebellischen Mechanismen einen schweigenden Druck ausübt, als würde jeder Ansturm von Gedanken sofort ergriffen und wieder aufgelöst, zum anderen durch die Ansammlung von Tausenden von minutiösen Erfahrungen, die immer deutlicher werden und uns vor Augen führen, daß man sehr wohl ohne Mental auskommen kann und es sich in Wahrheit sogar in keiner Weise um einen Verlust sondern um einen Gewinn handelt.

Langsam aber sicher erreicht man so den Punkt, an dem man feststellt, daß es nicht notwendig ist zu denken. Etwas über oder hinter uns erledigt alles, was erforderlich ist, und zwar mit umso größerer Genauigkeit und Unfehlbarkeit, je mehr wir uns daran gewöhnen, uns darauf zu beziehen. Desgleichen ist es unnötig, sich zu erinnern, dafür kommt genau im gewollten Augenblick die benötigte Information auf; ebensowenig ist es nötig, sein Handeln vorauszuplanen, dafür bringt eine versteckte Triebfeder genau den erforderlichen Anstoß, ohne daß es notwendig wäre, darüber nachzudenken oder willentlich einzugreifen, und mit einer ungeahnten Weisheit und Voraussicht, zu der unser kurzsichtiger Verstand nicht fähig ist, bewegt sie uns dazu, genau das zu tun, was erforderlich ist. Wir sehen auch, daß, je mehr wir uns auf die unvermuteten Fingerzeige und Eingebungs-Geistesblitze verlassen, deren Tendenz an Häufigkeit, Klarheit, Unabweisbarkeit und Selbstverständlichkeit umso stärker zunehmen wird, entfernt vergleichbar mit einem intuitiven Vorgang, allerdings mit dem kapitalen Unterschied, daß unsere Intuitionen nahezu ausnahmslos von den Räsonnements des Verstandes verwirrt und deformiert sind, die sich äußerste Mühe geben, die Intuitionen so gut es geht zu imitieren, und es partout versuchen, uns die charakterlichen Eigenheiten als objektive Offenbarungen unter die Weste zu jubeln, während hier die Übermittlung aus einem triftigen Grunde klar, schweigend und absolut korrekt abläuft: der Verstand ist verstummt. Wer hat nicht schon einmal die Erfahrung gemacht, daß sich schwierige Probleme "geheimnisvollerweise" im Schlaf wie von selbst lösen, das heißt genau deshalb, weil die mentale Maschinerie ihre Bewegung und damit ihren "Geist" aufgegeben hatte. Zweifellos wird es reichlich Irrtümer, Fehlhandlungen und Fehlanwandlungen geben, bevor sich das neue Verfahren mit einiger Sicherheit etabliert, aber der Suchende kann sich getrost darauf gefaßt machen, denn er wird merken, daß die Irrtümer in jedem Falle auf die Einmischung des Verstandes zurückgehen. Jedesmal wenn das Mental sich einmischt, wird alles verstrickt, zerstückelt und aufgehalten. Und kraft aller Irrtümer und Erfahrungen wird man eines Tages ein für allemal praktisch verstanden haben und mit eigenen Augen sehen, daß das Mental kein Werkzeug der Erkenntnis ist, sondern lediglich ein Organisator derselben, wie die Mutter einmal bemerkte, und daß diese Erkenntnis tatsächlich anderswo ihren Ursprung nimmt.* Aus dem Schweigen des Verstandes kommen die Worte, die Sätze, die Taten und alles andere spontan und mit einer verblüffenden Zuverlässigkeit, Treffsicherheit und Genauigkeit. Es ist eine andere, schwerelosere Art zu leben. Denn in Wahrheit gibt es nichts, was das Mental tun kann, das nicht genauso gut und sogar besser in gedankenfreier Stille und mentaler Reglosigkeit getan werden kann.11

Das universelle Mental

Bis jetzt haben wir die Fortschritte des Suchenden auf sein Inneres bezogen analysiert, aber der Fortschritt wird auch auf der äußeren Ebene deutlich. In der Tat verringert sich die Trennung zwischen innen und außen zusehends, sie erscheint mehr und mehr als künstliche Übereinkunft eines jugendlichen Mentals, das auf sich selbst beschränkt ist und nichts als sich selbst sieht. Der Suchende spürt, wie diese Trennwand an Festigkeit verliert, und erfährt eine Art Veränderung in der Beschaffenheit seines Wesens, ganz als würde er leichter und durchsichtiger, durchlässiger, wenn man so will. Dieser Unterschied in der Beschaffenheit kündigt sich zuerst durch unerquickliche Anzeichen an, denn ein normaler Mensch wird gewöhnlich durch sein "dickes Fell" geschützt, während dies dem Suchenden dann abgeht: Er nimmt die Gedanken, die Wünsche, die Begierden der Menschen in Reinform auf, das heißt, so wie sie wirklich sind - als Anschläge. Dabei ist zu beachten, daß "negatives Denken" oder "böser Wille" nicht allein an dieser Virulenz teilhaben: Nichts ist aggressiver als guter Wille, hehre Gefühle und altruistische Absichten - so oder so nährt sich das Ego, gleich ob durch Süße oder durch Gewalttätigkeit. Wir sind, außer an der Oberfläche, nicht im mindesten zivilisiert, darunter schwelt es kannibalisch. Deshalb ist es unerläßlich, daß der Suchende der Kraft inne wird, von der wir gesprochen haben - mit Ihr kann er sich begeben, wohin er will. Praktisch kommt innerhalb der kosmischen Weisheit eine solche Durchlässigkeit oder Transparenz auch nicht ohne den entsprechenden Schutz vor. Gewappnet mit dieser Kraft und mentalem Schweigen, sieht der Suchende allmählich, daß er allen äußeren Einflüssen gegenüber offen ist, daß er von überall her aufnimmt, daß Entfernungen unwirkliche Schranken sind - niemand ist weit weg, niemand hat uns je verlassen, alles ist zusammen, und alles ist zugleich - über die Distanz von Zehntausenden von Kilometern kann er deutlich die Besorgnis eines Freundes spüren sowie den Zorn eines anderen Menschen oder die Leiden eines Bruders. Es genügt, daß der Suchende sich im Schweigen auf einen bestimmten Ort, eine bestimmte Person einstellt, um der dortigen Lage mehr oder weniger genau gewahr zu werden - mehr oder weniger genau, entsprechend seiner Kapazität des Schweigens, denn hier verwirrt das Mental ebenfalls alles, weil es begehrt, weil es fürchtet und weil es will, und nichts kann zu ihm durchdringen, ohne alsbald durch eben diese Begierde, dieses Wollen und diese Befürchtungen verfälscht zu werden (es gibt noch andere Faktoren, die zur Verwirrung beitragen, aber davon später). Es scheint also, als wäre mit dem mentalen Schweigen eine Ausweitung des Bewußtseins erreicht, es kann sich willentlich auf gleich welchen Punkt der universellen Realität richten, um davon zu erkennen, was zu erkennen notwendig ist.

Doch wir kommen in dieser schweigenden Transparenz zu einer anderen Entdeckung, die weitreichende Folgen nach sich zieht. Wir stellen nämlich fest, daß nicht nur die Gedanken anderer Menschen von außen auf uns zukommen, sondern auch, daß unsere eigenen Gedanken den gleichen Weg gehen, sie erreichen uns von außen. Haben wir einmal eine ausreichende Transparenz erreicht, bemerken wir in dem reglosen Schweigen des Verstandes etwas, das kleinen Wirbeln gleicht, die in unsere eigene Atmosphäre eindringen. Es sind ganz leichte Wellen, die unsere Aufmerksamkeit aufsichziehen. Begeben wir uns geistig ein wenig auf sie zu, "um zu sehen, worum es sich handelt", das heißt, lassen wir einen dieser kleinen Wirbel in uns eintreten, so ertappen wir uns plötzlich in Gedanken an etwas: Das, worauf wir am äußeren Rand unseres Wesens getroffen sind, war ein Gedanke im Reinzustand, oder vielmehr eine mentale Schwingung, bevor sie Gelegenheit hatte, ohne unser Wissen in uns einzudringen und an unserer Oberfläche in personalisierter Form wieder aufzutauchen, welche uns dann erlaubt, triumphierend auszurufen: "Das ist mein Gedanke." Auf diese Weise bringt es jemand, der gut Gedanken lesen kann, fertig, selbst die Gedanken von Personen zu lesen, deren Sprache er nicht beherrscht, denn er erhascht nicht wirklich ihre "Gedanken", sondern lediglich Schwingungen, denen er in sich dann die gemäße rationale Form verleiht. Genau genommen ist das eigentlich nichts Besonderes, und allein das Gegenteil wäre erstaunlich, könnten wir nämlich auch nur die geringste Kleinigkeit, den entferntesten Gedanken aus uns selbst schöpfen, so wären wir zugleich Weltenschöpfer! Wo in dir ist das Ich, das all das erschafft? fragte die Mutter. Nur wird der normale Mensch sich dieses Vorganges nicht bewußt, erstens weil er in einem ständigen inneren Aufruhr lebt, und zum anderen, weil der Vorgang, durch den Schwingungen ihre Zueignung finden, unwillkürlich und fast augenblicklich abläuft. Der Mensch hat sich durch seine Erziehung und sein Umfeld ein für allemal daran gewöhnt, einen bestimmten, sehr begrenzten Teil des allumfassenden oder universellen Mentals auszuwählen, zu dem er eine gewisse Neigung verspürt und dessen Frequenz er bis an sein Lebensende verhaftet bleibt und dessen Art der Schwingung er mit mehr oder weniger wohltönenden Worten und in mehr oder weniger geistreichen Redewendungen immer wieder reproduziert - er kreist und kreist im Käfig gleich Rilkes Tiger. Allein das mehr oder weniger schillernde Ausmaß unseres Wortschatzes spiegelt uns einen Fortschritt vor. Sicherlich, wir ändern unsere Ideen, aber die Ideen zu verändern, ist nicht das gleiche wie Fortschritte machen; es bedeutet nicht, daß man sich zu einer höheren oder rapideren Art der Schwingung erhebt; eigentlich dreht man nur eine gedankliche Pirouette mehr und vollführt eine neue Form der Kopfgymnastik in der gleichen alten Umgebung. Aus diesem Grunde sprach Sri Aurobindo von einer Veränderung des Bewußtseins.

Hat der Suchende einmal gesehen, daß seine Gedanken von außen kommen, und hat sich diese Erfahrung einige Hunderte Male in ihm wiederholt, so hält er damit den Schlüssel zur wahren Meisterschaft des Mentals. Während es schwer ist, sich eines Gedankens zu entledigen, den wir für den unsrigen halten, nachdem er sich in uns festgesetzt hat, fällt es hingegen leicht, die gleichen Gedanken abzuweisen, wenn wir sie von außen kommen sehen. Beherrschen wir einmal das innere Schweigen, sind wir so notwendigerweise Meister der mentalen Welt, denn anstatt bis in alle Ewigkeit an der gleichen Frequenz festzuhalten, können wir nun den ganzen Umfang der Wellenskala ausloten und nach Gutdünken auswählen oder ablehnen. Doch lassen wir Sri Aurobindo selbst die Erfahrung beschreiben, so wie er sie zum ersten Mal mit einem anderen Yogin namens Bhaskar Lele machte, als dieser drei Tage mit ihm zubrachte: Alle mental entwickelten Menschen, in jedem Falle aber solche, die über den Durchschnitt hinausgelangen, müssen auf die eine oder andere Art, oder wenigstens zu bestimmten Zeiten oder für bestimmte Zwecke, die beiden Teile ihres Mentals trennen: den aktiven Teil, der eine Gedankenfabrik ist, und den passiven, herrschenden Teil, der gleichzeitig sowohl Zeuge als auch Wille ist, der die Gedanken beobachtet, beurteilt, abweist, ausschließt, annimmt, Berichtigungen und Veränderungen veranlaßt, Meister im Hause des Mentals ist und fähig zur Selbstherrschaft, samrajya. Der Yogin jedoch geht noch weiter, er ist nicht allein dort Meister, sondern während er sich noch auf eine bestimmte Art im Mental befindet, verläßt er es gleichzeitig sozusagen und steht darüber oder dahinter und ist davon frei. Für ihn hat das Bild der Gedankenfabrik keine Bedeutung mehr; denn er sieht, daß die Gedanken von außen kommen, von dem universellen Mental oder der universellen Natur, manchmal gestaltet und deutlich, manchmal ungestaltet, und dann erhalten sie ihre Gestalt irgendwo in uns. Die Hauptaufgabe unseres Mentals besteht entweder in einer Reaktion der Billigung oder in einer Verweigerung dieser Gedankenwellen (sowie vitaler oder subtilphysischer Energiewellen) oder des Einkleidens dieses Gedankenstoffes in eine persönlich-rationale Form (oder vitale Regungen) aus der umgebenden Natur-Kraft. Dafür, daß er mir dies gezeigt hat, stehe ich in Leles Schuld. "Setz dich zur Meditation nieder," sagte er, "aber denke nicht, betrachte allein dein Mental; du wirst sehen, wie Gedanken in es eintreten. Wirf sie aus deinem Mental heraus, bevor sie eintreten können, bis es fähig zum vollkommenen Schweigen ist." Ich hatte nie zuvor von Gedanken gehört, die sichtlich von außen in den Verstand eintreten, aber ich dachte nicht daran, diese Wahrheit oder Möglichkeit in Zweifel zu ziehen, ich setzte mich einfach hin und tat es. Augenblicklich wurde mein Mental still wie die Luft auf einem hohen Berggipfel, in der sich kein Windhauch regt, und dann sah ich einen Gedanken und dann noch einen in ganz greifbarer Weise von außen kommen; ich schleuderte sie von mir, bevor sie eintreten und das Gehirn einnehmen konnten, und in drei Tagen war ich frei. Von diesem Augenblick an wurde das mentale Wesen in mir zur freien Intelligenz, zu einem universellen Mental, nicht beschränkt durch den engen Kreis persönlicher Gedanken gleich einem Arbeiter in einer Gedankenfabrik, sondern als Empfänger der Kenntnis um all die hundert Königreiche des Wesens und frei zu wählen, was es wollte, in diesem unermeßlichen Weltenreich der Sicht und der Gedanken.12

Nach dem Verlassen eines kleines Gedankengebäudes, in dem er sich sehr wohl fühlte und sich auch durchaus hell vorkam, blickt der Suchende zurück und fragt sich, wie er jemals in einem solchen Gefängnis hatte leben können. Er ist von der Erkenntnis frappiert, daß er über viele Jahre hinweg von Unmöglichkeiten umgeben gelebt hat und daß Menschen im allgemeinen hinter Gittern leben: "Dies kann man nicht tun, und das soll man nicht tun, dies geht gegen soundsoein Gesetz und jenes verstößt gegen soundsoein anderes, dies ist unlogisch, das ist nicht normal, das ist unmöglich ..." Und er entdeckt, daß alles möglich ist, und darüber hinaus, daß die wirkliche Schwierigkeit darin liegt, daß man etwas für schwierig hält. Nachdem man zehn Jahre, zwanzig Jahre gleich einer denkenden Flußschnecke in seiner mentalen Schale gehaust hat, beginnt man endlich, frei zu atmen.

Und man findet den unauflöslichen Gegensatz zwischen innen und außen gelöst, findet, daß auch er Teil unserer mentalen Verkalkung gewesen ist. In Wirklichkeit ist "außen" überall innen. Wir sind überall. Es ist ein Fehler zu glauben, daß alles leichter für uns wäre, wenn wir nur die idealen Bedingungen von Frieden, Schönheit und bukolischer Idylle verwirklichen könnten; denn es gäbe immer etwas, das uns stören würde, überall, so würden wir besser daran tun, unsere Gedankengebäude umzustoßen und all das "Äußere" in uns aufzunehmen - dann wären wir überall zu Hause. Das gleiche gilt für das Gegensatzpaar Aktion-Meditation: Hat der Suchende das Schweigen in sich hergestellt, so ist jede Aktion eine Meditation (er wird später sehen, daß auch Meditation umgekehrt Aktion sein kann). Ob jemand unter der Dusche steht oder seinem Tagewerk nachgeht, die Kraft fließt, fließt in ihm, und er ist immer auf das Andere eingestellt. Er wird feststellen, daß seine Handlungen hellsichtiger, wirksamer und kraftvoller werden, ohne im geringsten seinen Frieden zu beeinträchtigen: Die Substanz des mentalen Wesens ist still, so still, daß nichts sie stört. Wenn Gedanken oder Bewegungen aufkommen, durchqueren sie das Mental, wie ein Vogelzug den windstillen Himmel durchquert. Er zieht vorbei, stört nichts, hinterläßt keine Spuren. Selbst wenn eintausend Bilder und die gewalttätigsten Geschehnisse ihr in die Quere kommen, bleibt die gelassene Stille erhalten, als wäre die innerste Beschaffenheit des Mentals eine Substanz ewigen und unverletzlichen Friedens. Ein Mental, das diese Ruhe erreicht hat, kann zu handeln beginnen, sogar auf intensive und kraftvolle Weise, und es wird doch seine grundlegende Stille behalten - indem es nichts von sich aus verursacht, sondern von oben empfängt und dem eine mentale Gestalt verleiht, ohne etwas eigenes hinzuzusetzen, ruhig, leidenschaftslos und doch mit der Freude der Wahrheit und der glücklichen Kraft und dem Licht ihres Vorbeigehens.13

Ist es notwendig, daran zu erinnern, daß Sri Aurobindo in Indien damals eine revolutionäre Bewegung leitete und einen Guerillakrieg vorbereitete?