24. Juli 1965

(Satprem hatte Mutter geschrieben, um sie zu fragen, was ein Traum bedeute, in dem sein Bruder plötzlich eintrat, um ihm den Tod seines Sohnes mitzuteilen, ein sehr lebendiger Traum. Durch den emotionalen Schock wachte Satprem auf.)

Ich habe deinen Brief erhalten ... Ich denke nicht, daß der Traum eine Vorahnung ist. Hast du keine Nachrichten von Frankreich? Wenn etwas passiert wäre, hätte er dir bestimmt ein Telegramm geschickt.

Das ist nicht sicher ... Aber was für eine Konstruktion oder Vorstellung ist es denn?
Ich will es dir sagen.

Vor drei Tagen hatte ich eine ähnliche Erfahrung - ich will dir sagen, worin die Ähnlichkeit besteht.

Zuerst einmal, wie ich dir letztes Mal sagte, beginnt sich dieses physische Mental zu transformieren. Vor drei oder vier Tagen, jedenfalls vor unserem letzten Gespräch, wachte ich zu früher Stunde plötzlich inmitten einer Art Vision und Aktivität dieses besagten physischen Mentals auf. Das war ganz und gar ungewöhnlich für mich. Ich befand mich hier in diesem Zimmer, genauso wie es physisch ist, als jemand (ich glaube, es war Champaklal) plötzlich die Tür öffnete und sagte: "Oh, I am bringing bad news" [Oh, ich bringe eine schlechte Nachricht]. Ich hörte den Ton physisch, das bedeutet, daß es dem physischen Bereich sehr nahestand. "He has fallen and broken his head" [er ist gefallen und hat sich den Schädel gebrochen]. Aber es war, als spreche er von meinem Bruder (der schon seit langem tot ist), und während der Aktivität sagte ich mir: "Aber mein Bruder ist doch schon lange tot!" Dadurch entstand eine gewisse Spannung (Geste zu den Schläfen hin), weil ... Es ist ein wenig kompliziert zu erklären. Als Champaklal mir die Nachricht brachte, befand ich mich in meinem üblichen Bewußtsein, und ich fragte mich sofort: "Wie kommt es, daß der Schutz nicht wirkte?" In dieser Betrachtung tauchte eine Art ferne Erinnerung auf, daß mein Bruder ja tot ist. Ich schaute (es ist schwierig, das mit Worten zu erklären, es ist sehr komplex). Ich schaute in Champaklals Gedanken, um zu sehen, von wem er sprechen wollte, wer eigentlich gefallen war und sich den Schädel gebrochen hatte. Ich sah den Kopf von A. All das bewirkte eine Spannung (gleiche Geste zu den Schläfen). Da erwachte ich und schaute. Ich sah: Dies war eine Erfahrung, um mich klar erkennen zu lassen, daß dieses materielle Mental die Katastrophen liebt ("liebt" ist ironisch gemeint), es liebt sie, zieht sie an und fabriziert sie sogar, weil es den emotionalen Schock braucht, um seine Unbewußtheit wachzurütteln. Alles, was unbewußt und träge ist, bedarf heftiger Gefühle, um wachgerüttelt zu werden. Dieses Bedürfnis ruft eine Art morbide Anziehung oder Einbildung dieser Dinge hervor - ständig stellt es sich alle möglichen Katastrophen vor oder öffnet schlechten Suggestionen oder bösen Wesenheiten Tür und Tor, die sich dann einen Spaß daraus machen, die Möglichkeit für genau diese Katastrophen zu schaffen.

Ich sah dies sehr deutlich, es war ein Teil der Sadhana dieses materiellen Mentals. Ich bot all das dem Herrn dar und dachte nicht mehr daran. Als ich dann deinen Brief erhielt, sagte ich mir: "Genau dasselbe!" Dasselbe ungesunde Verlangen eben dieses physischen Mentals, das den heftigen Schock der Gefühle und Katastrophen sucht, um sein Tamas [Trägheit] aufzurütteln. Bei A's angeblichem Schädelbruch wartete ich sogar noch zwei Tage und sagte mir: "Wir werden ja sehen, ob es vielleicht doch wahr ist." Aber nichts geschah, er brach sich nicht den Schädel! Auch in deinem Fall sagte ich mir: "Ich rühre mich nicht, bis ich Nachricht erhalte", denn es mag vorkommen (einmal unter einer Million Fällen), daß es wahr ist, darum sage ich nichts. Aber heute morgen schaute ich erneut und sah, daß es genau dasselbe war: Es ist der nötige Entwicklungsprozeß, damit wir uns der "wundervollen" Funktion dieses Mentals bewußt werden.

Oh, ja! Beim kleinsten Kratzer macht sich sofort etwas im Wesen bemerkbar, das schreckliche Krankheiten vorhersieht - augenblicklich.
Ja, genau. Aber Sri Aurobindo sagte mir dies schon. Ich hatte ihn des öfteren gefragt, warum die Leute (die äußerlich, bewußt, eher die angenehmen Dinge und günstigen Ereignisse lieben) sich ständig unangenehme Dinge und sogar schreckliche Katastrophen anziehen. Ich kenne Frauen (auch Männer, aber weniger), die ihre Zeit damit verbringen, sich das Schlimmste vorzustellen: sie haben Kinder - so stellen sie sich vor, jedem könnten die schlimmsten Katastrophen zustoßen; jemand fährt Auto - oh, der Wagen könnte einen Unfall haben; man nimmt den Zug - der Zug könnte entgleisen und so weiter. So ist das. Sri Aurobindo erklärte das ausgezeichnet: All diese Teile des Wesens sind schrecklich träge, und erst die Heftigkeit des Schocks erweckt etwas in ihnen. Das ist der Grund, warum sie diese Dinge geradezu instinktiv anziehen ... Das Vital der Chinesen zum Beispiel ist extrem träge, und ihre Physis ist unempfindlich: ihr Empfinden ist völlig stumpf - so erfanden sie die furchtbarsten Foltern; sie benötigen nämlich etwas Extremes, um überhaupt fühlen zu können, sonst fühlen sie nichts. Ein Chinese hier hatte eine Art Milzbrand, glaube ich, mitten auf dem Rücken (offenbar eine im allgemeinen äußerst empfindliche Stelle), aber wegen seines Herzens konnte man ihm keine Narkose geben, um ihn zu operieren, und so war man etwas besorgt. Man operierte ihn ohne Narkose - er war wach, rührte sich nicht, schrie nicht, sagte nichts, man bewunderte seinen Mut; schließlich fragte man ihn, was er gefühlt habe: "Oh ja, ich fühlte, wie es am Rücken ein wenig kratzte." So ist das. Genau dies führt zur Notwendigkeit von Katastrophen, unerwarteten Katastrophen: die Sache, die den Schock bewirkt, um einen wachzurütteln.

Was du hier von den morbiden und krankhaften Vorstellungen sagst, habe ich mir vor kurzem selbst gedacht: im Nu ist die Einbildung katastrophal.

Ja, schrecklich.
Lange, lange Zeit bestand die ganze Arbeit darin, das zu heilen: das ständig zu ändern.

Gewöhnlich spielen sich meine nächtlichen Aktivitäten nie im Materiellen ab, sondern immer im Subtilphysischen, sozusagen dem dichtesten Teil. Ich habe wohl kaum ein halbes Dutzend Visionen in meinem Leben gehabt, die von solch materieller Wirklichkeit waren: ich sah das Zimmer, so wie es ist, und hörte klar den Klang von Champaklals Stimme. Da verstand ich, daß es sich um einen Traum des physischen Mentals handelte, das aktiv war, und daß es im Grunde darum ging, mir diese morbide Anziehung zu verdeutlichen ... Die Tür öffnete sich abrupt, der Mann trat ein und sagte mir (Mutter nimmt einen dramatischen Ton an): "I am bringing very bad news" [ich bringe eine sehr schlechte Nachricht], dazu diese gespannte Atmosphäre, und dann: "He has fallen down and broken his head" [er ist gestürzt und hat sich den Schädel gebrochen]. Daraufhin versuchte ich herauszufinden, wer dieser he [er] eigentlich war ... und nach und nach usw.

In dieser Bemühung um vollkommenen Gleichmut stoße ich nichts sofort zurück, indem ich mir sage: "Nein, das ist nicht möglich." Man muß allen Dingen still und ruhig gegenübertreten. Ich blieb still und ruhig und sagte mir: "Wir werden sehen, ich werde zwei Tage warten, und falls er sich wirklich den Schädel gebrochen hat (lachend), werde ich es ja erfahren!" Natürlich geschah nichts. Auch als ich deinen Brief erhielt, hatte ich denselben Eindruck, aber ich sagte mir: "Wir werden ja sehen ..." Ich schaute und sah nichts. Ich schaute durch deinen Brief und deine Worte hindurch und sah nichts. Ich hatte den Eindruck, daß dieses selbe physische Mental mit einer Formation in Verbindung gebracht worden war - einer eher bösartigen Formation, wie das ja die Gewohnheit des physischen Mentals ist.

Jetzt, da ich bemüht bin, meine Seinsweise zu korrigieren, merke ich, worum es hier geht ... Es ist wirklich ekelhaft. Unaufhörlich dreht das seine Runden, und immer so pessimistische wie nur möglich. Wie du sagst, beim kleinsten Schmerz: "Oh, ist das womöglich Krebs?"

Zigmal am Tag kann man sich dabei ertappen.
Ja, ja. Dieser Zustand ist fast konstant.

Aber dieses physische Mental bemüht sich jetzt selber, ihm ist endlich ein Licht aufgegangen; es versteht, daß sein Treiben nicht besonders lobenswert ist, und es versucht, sich zu ändern. Ist das erst einmal erkannt, geht es ziemlich schnell. Das Schwierige ist nur, daß die meisten unserer materiellen Bewegungen mechanisch ablaufen, wir kümmern uns nicht darum, das ist der Grund, warum sie immer so bleiben, wie sie sind. Aber seit einiger Zeit habe ich mir angewöhnt, mich damit zu befassen. Das ist nicht amüsant, aber man muß es tun, um das zu korrigieren.

Dies bedeutet eine ständige, ständige Arbeit, in allen Bereichen. Es ist sehr merkwürdig: beim Essen denkt es, die Nahrung sei vergiftet oder schwer verdaulich, dies und jenes, und überhaupt werde gar nichts funktionieren; geht man zu Bett, taucht sofort die Suggestion auf, man werde eine unruhige Nacht verbringen, sich nicht ausruhen können und schlecht träumen; spricht man mit jemandem, plagt einen erneut die Suggestion, man hätte nicht gesagt, was gesagt werden muß, oder womöglich könnte es ihn verletzt haben; schreibt man etwas, scheint es nie das Richtige zu sein. Fürchterlich, einfach fürchterlich.

Das muß sich ändern.

Sri Aurobindo sagte mir, bei den Indern sei dies nicht so ausgeprägt wie bei den Europäern, weil die Europäer sehr stark auf die Materie konzentriert und viel mehr an sie gebunden sind.

Nun ja ...

Dieses Gebet, von dem ich dir das letzte Mal erzählte, kam nachher; nicht unmittelbar danach, aber einen Tag später. Es war, als ob durch diese Erfahrung im physischen Mental und die klare Erkenntnis seiner Natur ein gewisser Fortschritt erzielt worden sei.

Den Hinweis über die Unwahrheit dieses Bewußtseins und seiner Aktivitäten erhielt ich, als ich mich so bemühte, mich daran zu erinnern, daß mein Bruder ja schon vor Jahren gestorben war; da sah ich die Kluft zwischen meinem wahren Bewußtsein und dem Bewußtsein, das ich in diesem Traum hatte. Ich erkannte die Falschheit dieses Bewußtseins. Für mich war das ein sehr klarer Hinweis. Statt des ruhigen und friedlichen Bewußtseins, das einer Wellenbewegung gleicht - einer Wellenbewegung aus Licht, die immer so verläuft (Geste gewaltiger Flügel im Unendlichen), wie eine sehr weite und friedliche Bewußtseinsregung, die sehr ruhig der universellen Bewegung folgt -, war da eine Verkrampfung (Geste zu den Schläfen hin), hart wie Holz oder Eisen, ja, so verkrampft und angespannt!... Da sah ich, wie falsch dies war. Das zeigte mir das genaue Ausmaß.

(langes Schweigen)

In den letzten Tagen hatte ich sehr stark den Eindruck, daß ... Ich weiß nicht, ob du dich erinnerst (warst du überhaupt schon geboren?), als Émile Zola sagte: "Die Wahrheit ist auf dem Vormarsch." Nein, da warst du noch nicht am Leben. Er sagte dem Kriegsgericht seine vier Wahrheiten, und es gab einen Riesenaufruhr, man legte ihm nahe, Frankreich zu verlassen, weil man ihn sonst ins Gefängnis gesteckt hätte. In England angekommen, sagte er: "Das spielt keine Rolle, die Wahrheit ist auf dem Vormarsch." Ich erinnere mich noch an den Eindruck - ich war noch jung, aber immerhin schon zwanzigjährig ... Unser Altersunterschied beträgt mehr als zwanzig Jahre, wie alt bist du? Vierzig?

Einundvierzig.
Ja, ein Unterschied von vierzig Jahren - mehr als das, 45 Jahre ... Ich war zwanzig, und diese Geschichte machte einen starken Eindruck auf mich. Erst kürzlich fiel mir das wieder ein, angesichts dieser katastrophalen und defätistischen Gewohnheit. Ich kannte sie schon lange, aber bisher schien sie sich völlig meiner Kontrolle zu entziehen; jetzt ist sie unter Kontrolle. Nicht nur das, sondern sie wird auch abgelehnt und willentlich zurückgewiesen. Das war damit gemeint, als es hieß: "Ich bin unserer Unwürdigkeit müde."

Die Schlußfolgerung lautet: Die Wahrheit ist auf dem Vormarsch.

(Schweigen)

Es gibt viel zu tun, sehr viel. Aber es kann relativ schnell gehen. Wenn man beobachtet, merkt man, daß es am meisten Zeit braucht, sich darüber klarzuwerden, was geändert werden muß, und den bewußten Kontakt herzustellen, der die Änderung ermöglicht. Das dauert am längsten. Die Änderung selbst ... Es kommt zwar zu Rückfällen, aber sie verlieren weitgehend an Intensität. Alles hängt ab von der Menge der Unbewußtheit und Tamas [Trägheit], die im Wesen steckt. Je mehr das abnimmt, desto stärker die Erfahrung.

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Mutter geht über zur Übersetzung von Savitri, dem Dialog mit dem Tod:

... Vom universellen Gesichtspunkt aus gesehen, wurde gerade aufgrund dieser Trägheit, dieser Unbewußtheit, die Existenz des Todes notwendig - die "Existenz" des Todes!