28. Juli 1961

(Über die Involution und Evolution, das Bewußtwerden der Unbewußtheit in der Materie.)

Hier ist eine wichtige Frage: Sri Aurobindo sagt, alles ist hier unten involviert - das Mental, das Vital, das Supramental -, und das, was involviert ist, evolviert. Aber wenn alles, auch das Supramental, involviert ist, warum besteht dann die Notwendigkeit einer "Herabkunft"? Können die Dinge nicht von alleine evolvieren?
Ah! Irgendwo erklärt er das.

Ich erinnere mich nicht, irgendwo eine befriedigende Antwort gelesen zu haben.
Ist es nicht in den Essays on the Gita? Er erklärt, was Krishna sagte und wie die beiden [Herabkunft und Evolution] zusammenwirken Ich las das vor nicht allzu langer Zeit, und gerade diese Frage interessierte mich. Ich sagte sogar selber irgendwo etwas über den Unterschied zwischen dem, was evolviert (was aus dieser Involution hervorkommt), und Der Antwort dessen, was dort oben bereits in seiner vollen Pracht existiert.

Das müßten wir finden.

In den sehr alten Überlieferungen trifft man auf zwei Richtungen, das heißt zwei verschiedene Erklärungen. Die eine besagt, daß durch die "Herabkunft" des bereits in seiner Vollkommenheit Bestehenden das Involvierte zur Evolution und zum Bewußtsein erwachen kann. Das ist wie in dieser alten Geschichte: als das, was Sri Aurobindo die universelle Mutter oder Shakti (oder Satchitananda [das Höchste Bewußtsein in seinem dreifaltigen Aspekt als Sein (Sat), Bewußtsein (Chit) und Wonne (Ananda).]) nennt, merkte, was in der Materie geschehen war (das heißt das, was die Materie schuf), als sie diese Involution bemerkte, die zur Unbewußtheit führte - eine vollkommene Unbewußtheit -, da, sagt die alte Überlieferung, kam die göttliche Liebe unmittelbar vom Herrn in die Materie herab, um allmählich das zu erwecken, was dort involviert war.

Andere Überlieferungen nennen es "das Bewußtsein" statt Liebe: das Göttliche Bewußtsein. Man findet auch bilderhafte Erzählungen, Darstellungen eines regenbogenfarbigen leuchtenden Wesens in einer Grotte des Unbewußten, in einem tiefen Schlaf, und die besagte Herabkunft erweckt es zu einer noch inneren Aktivität, einer unbewegten Aktivität allein durch seine Ausstrahlung (eine Wirkung durch die Ausstrahlung): von seinem Körper gehen unzählige Strahlen aus, verbreiten sich im Unbewußten Nund erwecken allmählich in jedem Ding, in jedem Atom sozusagen die Aspiration zum Bewußtsein und den Anfang der Evolution.

Diese Erfahrung hatte ich.

Ich hatte die Erfahrung, in gewisser Weise "entsandt" zu werden, und zwar in einer Form von Liebe verbunden mit Bewußtsein - die Göttliche Liebe in ihrer höchsten Reinheit, das Göttliche Bewußtsein in seiner höchsten Reinheit -, DIREKT entsandt, ohne durch all die Zwischenstadien zu gehen: direkt in die tiefsten Tiefen des Unbewußten. Dort war es der Eindruck, ein symbolisches Wesen in einem tiefen Schlaf zu sein oder besser gesagt, ihm zu begegnen, und man könnte sagen, es war so sehr verschleiert, daß es unsichtbar war. Durch die Begegnung zerriß der Schleier gleichsam, und ohne daß es erwachte, begann sich eine Art Strahlung auszubreiten Ich sehe meine Vision noch. [Als Anhang zu diesem Gespräch führen wir die Transkription von Mutters Vision an, wie sie sie selber 1906 in Theons Revue Cosmique niederschrieb.]

(Schweigen)

Man kann die Dinge immer in einer fast populären Form darstellen. So ist es zum Beispiel mit der Schöpfungsgeschichte: die Geschichte, wie die Dinge entstanden sind. Man kann es als Verlauf einer Geschichte erzählen (das tat Theon in seiner Tradition - ein Buch, das er La Tradition nannte -, dort erzählte er die ganze Geschichte meine Güte, wie sie auch in der Bibel erzählt wird, das heißt mit Symbolen und Gestalten, die das psychologische Wissen ausdrücken). Man kann die Dinge auch auf psychologische Art und auf metaphysische Art ausdrücken. Die Metaphysik ist für mich nun, trocken und unverständlich, uninteressant (sie ist nur für die interessant, die eine solche Geisteseinstellung haben). Mir erscheint eine fast kindliche und sehr bildhafte Beschreibung der Dinge ausdruckskräftiger als sämtliche metaphysischen Theorien (aber das ist meine persönliche Meinung und hat keine Bedeutung!). Der psychologische Aspekt ist am dynamischsten für die Transformation. Diesen Aspekt wählte Sri Aurobindo meist: er erzählt uns keine Geschichten. (Wenn es Geschichten gab, erzählte ich sie ihm meistens! - Ich finde Bilder eben sehr ausdruckskräftig.) Aber wenn man die beiden Aspekte verbindet Um philosophisch zu sein, müßte man sie eigentlich alle drei zusammen nehmen. Aber bei der metaphysischen Seite hatte ich immer den Eindruck, daß sie die Leute dazu verleitet, ZU DENKEN, sie wüßten es, aber sie denken es nur (!), und in Wirklichkeit haben sie keine Ahnung, weil es wirkungslos ist: das verwirklicht nicht. Vom Standpunkt des Dranges, des Schwungs zur Transformation ist offensichtlich die psychologische Seite am mächtigsten. Aber die symbolische ist schöner!

In seinem Buch The Hour of God führt Sri Aurobindo eine ganze Tabelle über die Manifestation an: zuerst kommt dies, dann das, dann jenes, usw. - eine ganze Reihe. Dazu muß ich sagen, daß sie das zwar sehr ernsthaft in dem Buch abdruckten, aber als er es zusammenstellte (ich war dabei), geschah es mehr zum Spaß. Jemand sprach mit ihm genau über die verschiedenen Religionen, die verschiedenen philosophischen Methoden und über die Theosophie, Frau Blavatsky und all diese Leute (auch Theons Geschichte: jeder mit seiner Tabelle). Da sagte Sri Aurobindo: "Ich kann auch eine Tabelle aufstellen, und meine wird viel vollständiger sein!" Als sie dann fertig war, sagte er: "Aber es ist nur eine Tabelle, zum Spaß." Im Buch druckten sie es sehr ernsthaft, als hätte er eine gewichtige Erklärung abgegeben. Wie kompliziert die Dinge doch sind!

Nein, die Schwierigkeit ist, daß die Leute sagen werden: Warum erfordert es eine "Herabkunft", wenn alles involviert ist und bloß zu evolvieren braucht? Wozu die Herabkunft? Warum das Eingreifen einer höheren Ebene?
Aber entschuldige! Um das aufzulösen, was zu dieser Involution geführt hatte. Die URSACHE der Involution mußte aufgelöst werden.

In Theons Geschichte verlief das so: Zuerst gibt es die Universelle Mutter, und sie ist mit der Schöpfung beauftragt (er nannte sie nicht universelle Mutter, das ist Sri Aurobindos Begriff). Zur Schöpfung erzeugt sie vier Emanationen: das Bewußtsein oder Licht, das Leben, die Liebe oder Glückseligkeit und (Mutter sucht vergeblich) Ich glaube, heute leide ich an Gedächtnisschwund! In Indien ist nur von dreien die Rede: Sat-Chit-Ananda (Sat ist Sein, das sich durch das Leben ausdrückt, Chit ist Bewußtsein, das sich durch Macht ausdrückt, und Ananda ist Wonne oder Glückseligkeit gleichbedeutend mit Liebe). Aber nach Theon gab es vier (ich kannte sie auswendig). Theon erzählte das in einer auch für Nicht-Philosophen und kindliche Gemüter verständlichen Form: Diese Emanationen wurden sich ihrer Macht bewußt und lösten sich von ihrem Ursprung, das heißt anstatt gänzlich dem Höchsten Willen untergeben zu sein und nur die Höchste Wahrheit auszudrücken (Ah, die Vierte war die Wahrheit!) Anstatt nur nach dem Höchsten Willen zu handeln, bekamen sie sozusagen das Gefühl ihrer persönlichen Macht (sie waren wie Persönlichkeiten: universelle Persönlichkeiten, die jeweils eine Seinsweise darstellten), und anstatt verbunden zu bleiben, trennten sie sich - handelten eigenmächtig, um es noch verständlicher auszudrücken. Da wurde das Licht natürlich zur Dunkelheit, das Leben wurde Tod, die Glückseligkeit wurde Leiden, und die Wahrheit wurde Lüge. Dies sind die vier großen Asuras: der Asura der Unbewußtheit, der Asura der Lüge, der Asura des Leidens und der Asura des Todes.

Nachdem all dies passierte, wandte sich das Göttliche Bewußtsein an den Höchsten und sagte ihm (belustigt lachend): "Sieh, was passiert ist. Was nun?" Da kam vom Göttlichen eine Emanation der Liebe (in der ursprünglichen Emanation war es nicht die Liebe, sondern das Ananda: die Glückseligkeit, die Freude am Sein, die zum Leiden wurde). Aus dem Höchsten ging die Liebe hervor und drang in diesen Bereich des Unbewußten, der aus der Schöpfung der Erstentsandten resultierte - Bewußtsein und Licht, die zu Unbewußtheit und Dunkelheit geworden waren. Die Liebe ging direkt vom Höchsten dorthinein, das heißt Er erzeugte eine neue Emanation, und zwar ohne durch die dazwischenliegenden Welten zu gehen. (Denn in der Geschichte hatte die universelle Mutter zunächst alle die Götter geschaffen, die diesmal die Verbindung mit dem Höchsten bewahrten, als sie hinabstiegen, und die alle die anderen Welten schufen, um diesem Sturz entgegenzuwirken - das ist die alte Geschichte vom "Sturz", dem Sturz in die Unbewußtheit. Aber das genügte nicht.) Gleichzeitig mit der Schöpfung der Götter ging also diese direkte Herabkunft der Liebe unmittelbar in die Materie, ohne durch all die dazwischenliegenden Welten zu gehen. So lautet die Geschichte. Das ist die Geschichte der ersten Herabkunft. Aber du sprichst von der Herabkunft, die Sri Aurobindo ankündigte, von der Herabkunft des Supramentals.

Nicht nur. Sri Aurobindo sagt zum Beispiel, als das Leben auftrat, gab es einen Druck von unten, durch die Evolution, um das Leben aus der Materie hervorzubringen, und zugleich eine Herabkunft des Lebens von seiner eigenen Ebene. Dann, als das Mental aus dem Leben hervortrat, kam wieder dasselbe von oben. Warum bedarf es jedesmal dieses Eingriffs von oben? Warum gehen die Dinge nicht einfach aus einander hervor, ohne von einer "Herabkunft" abzuhängen?
Warum ging alles auch so schief!

Nein, das wird leicht verständlich, wenn man selber die Erfahrung hat.

Nimm als Beispiel die Erfahrung des Mentals: durch die Evolution der Natur trat das Mental allmählich aus seiner Involution hervor. Diese ersten "mentalisierten" Formen (und dies ist eine sehr konkrete Erfahrung) waren notgedrungen sehr unvollständig und unvollkommen, weil die Natur langsam und zögernd und umständlich ist. Dann entstand in diesen Formen unumgänglicherweise eine Aspiration zu einer Perfektion, zu einem wirklich vollkommenen mentalen Zustand, und diese Aspiration führte zur Herabkunft bereits voll bewußter Wesen von der mentalen Welt, die sich nun mit dem irdischen Wesen vereinigten - dies ist eine sehr konkrete Erfahrung. Das, was so aus dem Unbewußten hervorkommt, ist beinahe wie eine unpersönliche Möglichkeit (ja, eine unpersönliche und vielleicht nicht ganz universelle Möglichkeit, da es der Geschichte der Erde entspricht), jedenfalls eine allgemeine und keine persönliche Möglichkeit. Und die Antwort von oben ist sozusagen das Konkretisierende: es bringt eine Art Vollkommenheit des Zustands und eine individuelle Beherrschung der neuen Schöpfung.

Diese Wesen kamen auf die Erde, sobald das entsprechende Element aus seiner Involution zu evolvieren begann (in den jeweiligen Welten existierten solche Wesen, wie die Götter im Übermental$FBei Sri Aurobindo bezeichnet das Übermental (Overmind) die höchste Ebene des Mentals, die Welt der Götter, Ursprung aller Offenbarungen und des höchsten künstlerischen Schaffens - die Welt, die bis heute den Menschen beherrscht. In seiner Einstufung der Welten spricht Sri Aurobindo von zwei Hemisphären, der oberen und der unteren. Das Übermental ist die Grenze zwischen beiden: "Diese Linie ist die Zwischenstufe des Übermentals, das - obwohl es selber erleuchtet ist - die ungeteilte Fülle des Supramentalen Lichts von uns fernhält. Was es empfängt, trennt es, verteilte es, bricht es in verschiedene Aspekte, Kräfte, Vielfältigkeiten aller Arten." In den Worten des Upanishad: "Das Antlitz der Wahrheit ist von einer goldenen Platte verdeckt." oder die anderen Wesen der höheren Regionen). Zum einen beschleunigt das die Handlung, es macht sie aber auch vollkommener - vollkommener, mächtiger, bewußter. Es gibt der Verwirklichung eine Art Bestätigung. So beschreibt Sri Aurobindo es in Savitri: Savitri lebt allzeit auf der Erde - lebte immer auf der Erde mit der Seele der Erde, um die ganze Erde so schnell wie möglich fortschreiten zu lassen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt, wenn die Dinge bereit sind, wird sich die göttliche Mutter mit ihrer vollen Macht in Savitri verkörpern - wenn die Dinge bereit sind. Das bringt die Vollkommenheit der Verwirklichung: eine Pracht der Schöpfung, die alles Vorstellbare übertrifft! Das bringt eine Fülle und Macht, die die etwas flache Logik der menschlichen Mentalität weit übersteigen würde.

Das können die Leute nicht verstehen! Sich auf die Ebene der Leute zu versetzen, ist schön und gut$FMutter meint das Buch, das Satprem über Sri Aurobindo schreiben soll und das der Grund der hier gestellten Fragen ist. (ich fand das nie gut, aber nun, vielleicht läßt es sich nicht vermeiden), doch zu hoffen, daß sie jemals diese Pracht verstehen könnten! Zuerst müßten sie es leben!

Ich würde in diesen Fällen NIEMALS die Frage des Warums aufgreifen, ich würde immer einfach sagen: "Es ist so." Wenn die Leute mir erzählen: "Warum kam es so? Warum ist die Welt unglücklich? Warum ist sie erst dunkel, bevor sie hell wird? Warum gab es diesen "Unfall"? (Wenn man das als Unfall bezeichnen kann) Warum erlaubte der Herr?" Man kann sagen: es ist wegen diesem, wegen jenem - man kann fünfzigtausend Antworten geben, die aber völlig wertlos sind. Es ist so, weil es so ist!

Mir geht es nicht so sehr um das "warum" als um den Vorgang.
Der Vorgang? Hier gebe ich dir einen historischen Vorgang, aus Erfahrung.

Es erfordert also beides.
Ja. Die Erde ist eine repräsentative und symbolische Welt, eine Art Kristallisierung und Verdichtung des evolutionären Werkes, um dem eine konkretere Wirklichkeit zu verleihen. So ist es aufzufassen: die Geschichte der Erde ist eine symbolische Geschichte (es ist nicht die Geschichte der universellen Schöpfung, sondern die der IRDISCHEN Schöpfung), und auf der Erde findet diese Herabkunft statt, sie findet im individuellen IRDISCHEN Wesen statt, in der individuellen IRDISCHEN Atmosphäre.

Nimm Savitri als Beispiel (weil Savitri diesen Punkt sehr deutlich herausstellt): Die universelle Mutter ist universell zugegen und universell im Universum am Werke, aber wir nehmen die Erde als eine Konkretisierung der gesamten zu vollbringenden Arbeit, damit die Evolution ihre Vollkommenheit, ihr Ziel erreicht. Zuerst ist dort eine Art repräsentative Emanation der universellen Mutter, die ständig auf der Erde bleibt, um ihr zu helfen, sich vorzubereiten. Wenn die Vorbereitung dann abgeschlossen ist, wird die universelle Mutter selber auf die Erde herabkommen, um ihr Werk zu vollenden. Sie tut dies mit Satyavan - Satyavan ist die Seele der Erde. So lebt sie in enger Vereinigung mit der Seele der Erde, und zusammen vollbringen sie Die Arbeit: sie wählte die Seele der Erde für ihre Arbeit. Sie sagte: "DORT werde ich meine Arbeit tun." Alles andere (Mutter deutet auf die höheren Bewußtseinsebenen) geschieht von alleine: dort genügt es, zu sein, und die Dinge SIND. Hier auf der Erde muß man arbeiten.

Natürlich hat das auch universelle Folgen und Auswirkungen, aber hier WIRD ES GETAN, hier ist der ORT der Arbeit. Anstatt selig in ihrem universellen und jenseitigen, über-universellen Zustand weiterzuleben (im Zustand der Ewigkeit außerhalb der Zeit), sagte sie: "Nein, HIER vollbringe ich meine Arbeit, HIERHIN gehe ich, ich wähle." Da sagte ihr der Höchste: "Du hast Meinen Willen ausgedrückt." - Sie sagte: "DORT will ich Die Arbeit vollbringen, und wenn alles bereit ist, wenn die Erde und die Menschheit bereit sind (auch ohne daß irgend jemand es wüßte, werden sie bereit sein), wenn der Große Augenblick gekommen ist dann werde ich herabkommen und meine Arbeit vollenden."

Das ist die Geschichte.

Wenn die Leute dich jetzt fragen: "Warum?", antworte ihnen: "Ich habe keine Ahnung, das ist einfach so." Warum? (Mutter zuckt mit den Schultern) Wie kann man mit einem kleinen menschlichen Gehirn begreifen, warum es so ist! - Wenn man es lebt, dann weiß man es! Die Frage stellt sich erst gar nicht: es ist offensichtlich, es ist so, weil es so ist. Es mußte so sein - es ist so.

Ihr könnt alle möglichen Erklärungen finden: das Bewußtsein wäre sonst nie so vollkommen gewesen, die Freude wäre nicht so vollkommen gewesen, die Verwirklichung wäre nicht so vollkommen gewesen, wenn man all das nicht durchgemacht hätte Aber das sind bloß Erklärungen, um den Intellekt zu befriedigen. Wenn man erst darin lebt, braucht man keine Erklärungen mehr.

Und was die Hoffnung angeht, die Leute je zum Verständnis zu bringen! Mögen sie dein Buch mit Interesse lesen - im Grunde ist dies das einzig Wichtige. Mögen sie es mit Interesse lesen: jeder wird sich einbilden, es verstanden zu haben (natürlich wird er es "verstanden" haben!), und durch ihr Interesse (beinahe hätte ich gesagt "unter" ihrem Interesse) wird etwas in ihrem Bewußtsein erwachen, etwas wie eine erste Aspiration zum Bedürfnis der Verwirklichung - das ist alles. Wenn das erreicht wird - gütiger Gott! - dann haben wir etwas Großartiges vollbracht.

Sie zum Verständnis zu bringen! Verständnis von was? Man versteht es selber nicht, solange man dort ist [im Mental]. Man kann sich alles mögliche vorstellen, alles mögliche erklären, aber mit ein wenig Vernunft erkennt man leicht, daß es nichts erklärt.

***

Anhang: Auszug aus der "Revue Cosmique" von 1906

Eine Vision (von Mutter)

Soeben schlief ich noch, und nun erwache ich.

Ich schlief auf den Wassern im Westen, und jetzt dringe ich in den Ozean, um seine Tiefen zu erforschen. Seine Oberfläche ist grün wie Beryll, silbrig unter den Strahlen des Mondes. Darunter ist das Wasser blau wie Saphir und leuchtet bereits ein wenig.

Auf Wogen wie Seidensträhnen gebettet sinke ich tiefer, eine regelmäßige und sanfte Bewegung wiegt mich von einer Woge zur nächsten und trägt mich direkt nach Westen. Je tiefer ich sinke, um so leuchtender wird das Wasser, und große silberne Strömungen durchfließen es.

Lange Zeit sinke ich so, von Welle zu Welle getragen, tiefer und tiefer.

Plötzlich erblicke ich über mir etwas rosenfarbiges. Ich nähere mich und erkenne einen Busch wie eine Koralle, groß wie ein Baum, an einen blauen Felsen geheftet. Die Bewohner der Wasser kommen und gehen, unzählig und vielfältig. Nun stehe ich aufrecht auf dem feinen glänzenden Sand. In Bewunderung blicke ich um mich. Dort sind Berge und Täler, phantastische Wälder, seltsame Blumen, die auch Tiere sein könnten, und Fische, die man für Blumen halten könnte - es gibt keine Trennung, keine Kluft zwischen den bewegten und den bewegungslosen Wesen. Überall sind Farben, sanfte oder lebhafte und schillernde, aber stets verfeinert und in Einklang. Ich schreite auf dem goldenen Sand und betrachte all diese Schönheit in ihrem sanften blauen Licht, durchbrochen von winzigen roten, grünen und goldenen Kugeln.

Wie wundervoll sind die Tiefen des Meeres! Überall spürt man dort die Gegenwart Dessen, in dem aller Einklang ruht!

Ich gehe weiter gen Westen, ohne Müdigkeit oder Trägheit. Die Bewundernswürdigkeiten lösen einander in ihrer unglaublichen Vielfalt ab: hier fließen feine zarte Algen wie langes goldenes oder violettes Haar von einem Felsen aus Lapislazuli, dort breite rosa Wände von Silber gestreift, dort Blüten, die aus riesigen Diamanten geschnitten scheinen, dort Kelche, schöner als das Werk des fähigsten Ziseleurs - sie enthalten Tropfen von Smaragd mit abwechselnden Strömen von Schatten und Licht.

Jetzt schlage ich einen Pfad auf silbernem Sand zwischen zwei saphirblauen Felsen ein. Das Wasser wird immer klarer und leuchtender.

Nach einer Wegkehre stehe ich plötzlich vor einer Grotte, die aus geschliffenem Kristall beschaffen scheint, über und über glitzernd in regenbogenfarbigen Strahlen.

Zwischen zwei leuchtenden Säulen steht ein hochgewachsenes Wesen. Sein Kopf - der eines jungen Mannes - ist von kurzen blonden Locken gesäumt, seine Augen sind meergrün. Er trägt eine hellblaue Tunika, und auf seinen Schultern sitzen gleich Flügeln große schneeweiße Flossen. Als er mich sieht, schmiegt er sich an eine der Säulen, um mich passieren zu lassen. Kaum habe ich die Schwelle überquert, erreicht eine exquisite Melodie meine Ohren. Das Wasser leuchtet hier in allen Farben, der Boden ist mit schillernden Perlen bedeckt, der Vorhof und das Gewölbe, von dem anmutige Stalaktiten hängen, ist wie aus Opal beschaffen. Köstliche Parfums schweben überall. Galerien, Nischen, Winkel führen in alle Richtungen, aber direkt vor mir erblicke ich ein helles Licht, und ihm wende ich mich zu. Es sind weite Strahlen aus Gold, Silber, Saphir, Smaragd, Rubin - diese Strahlen gehen alle von einem Punkt aus, der zu fern ist, als daß ich ihn ausmachen könnte, und breiten sich in alle Richtungen aus. Eine mächtige Anziehungskraft drängt mich zu ihrem Zentrum.

Jetzt sehe ich, woher die Strahlen kommen. Ich sehe ein Oval aus weißem Licht umgeben von einem prachtvollen Regenbogen. Das Oval ist ausgestreckt, und ich spüre, daß jener, den das Licht vor meinen Augen verbirgt, in tiefer Ruhe versunken ist. Lange verharre ich am äußeren Rand des Regenbogens und versuche, das Licht zu durchdringen und jenen zu erblicken, der von solcher Pracht umgeben schläft. Nachdem ich so nichts erkennen kann, schreite ich durch den Regenbogen und betrete das leuchtend weiße Oval. Da sehe ich ein wunderbares Wesen: es liegt ausgestreckt auf einer Fülle weißer Daunen, sein geschmeidiger Körper von unvergleichlicher Schönheit ist in ein langes weißes Gewand gekleidet. Von seinem auf einem Arm ruhenden Kopf sehe ich nur die langen Haare in der Farbe des reifen Weizens über seine Schultern fließen. Bei diesem großartigen Anblick durchdringt mich eine tiefe, sanfte Ergriffenheit und auch eine große Hochachtung.

Hat der Schlafende meine Gegenwart gespürt? Jetzt erwacht er und erhebt sich in seiner vollen Anmut und Schönheit. Er wendet sich mir zu, und seine Augen begegnen den meinen - leuchtende malvenfarbene Augen mit einem Ausdruck unendlicher Sanftheit und Zärtlichkeit. Ohne den Lärm eines Wortes heißt er mich still und bewegend Willkommen, worauf mein ganzes Wesen freudig antwortet. Dann nimmt er mich bei der Hand und führt mich zum Lager, das er soeben verlassen hatte. Ich strecke mich auf den weichen Federn aus, und sein harmonisches Gesicht beugt sich über mich - ein sanfter Kraftstrom erfüllt mich gänzlich und belebt jede meiner Zellen.

Von den prächtigen Farben des Regenbogens umgeben, in wiegende Melodien und exquisite Parfums gehüllt, sank ich unter seinem so mächtigen und zärtlichen Blick in einen glückseligen Schlaf. Und in meinem Schlaf lernte ich viele schöne und nützliche Dinge.

Von all den wunderbaren Dingen, die ich ohne den Lärm von Worten verstand, erwähne ich nur eines:

Überall, wo die Schönheit ist, überall, wo das Leuchten ist, überall, wo der Fortschritt zur Vollkommenheit ist, sei es im Himmel der Höhen oder in dem der Tiefen, ist gewiß das Wesen in der Form und Gleichheit des Menschen zu finden, des Menschen als höchstem irdischen Evolutor.

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Aus Mutters Agenda, Band 2, © 1992 Institut für Evolutionsforschung.