128 S., ISBN 3-910083-17-X
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Seit Darwin konnten wir uns eine andere Spezies nur als "Verbesserung" der unsrigen vorstellen, in der Hoffnung, sie würde weniger zerstörerisch ausfallen. Doch es gibt keine mögliche neue Spezies und keine Zukunft für die Erde, wenn wir nicht zur physischen Wurzel dessen gehen, was wirklich die Zerstörung bewirkt - die Zerstörung von allem: Menschen und Tieren, seit Milliarden Jahren. Es gibt aber nur eine mögliche Art, sich auf die Suche nach diesem allerersten Grab der Erde zu machen, und zwar in den eigenen Körper zu tauchen, in seine Zellen, seine Atome, und dieses "etwas, das den Tod bewirkt" bei lebendigem Leibe zu durchqueren. Dann weiß man, was es ist und worum es sich handelt, ohne Mikroskop und ohne Anästhesie. Dann weiß man, daß dieser große Zerstörer, dieser "Tod, der sich an seinen Geschöpfen mästet" durchdringbar und zerstörbar ist. Am Ende dieser fabelhaften Forschung, dieses gefahrvollen Abenteuers, auf der anderen Seite dieser vorzeitlichen Mauer des Todes - genau in den Zellen des Körpers - entdeckt man eine neue Art Leben, eine neue Art Luft, eine andere physische Atmung, wie es sie seit dem Erscheinen des ersten Lungensystems und der ersten Amphibie vor 400 Millionen Jahren noch nie gegeben hat. Dies ist das Geheimnis unserer alten tödlichen Evolution und das Tor einer neuen Schöpfung auf der Erde. Evolution II.

Aus dem Inhalt:

1 Evolution II
2 Das günstige Milieu
3 Die beiden Enden der menschlichen Erfahrung
4 Der Faden
5 Die Tore der Sonne
6 Sri Aurobindo


 



Kapitel 1:

Darwin stellte sich gewiß einige Fragen, als ihm nach und nach unzweifelhaft klar wurde, daß auch die Königin Viktoria von einem Affenweibchen abstammte. Auch der große Erzbischof von Canterbury. Es war fast wie ein "Mordgeständnis", gab er zu, bevor er sich in den Ursprung der Arten vertiefte; es machte ihn zum Agnostiker, und die gesamte biblische und religiöse Lehre der Unveränderlichkeit der Arten brach zusammen - eine weit tieferreichende Revolution als die der Bastille von 1789. Letztere verwandelte zwar Europa von Grund auf, aber diesmal wurde die Welt der letzten vier Milliarden Jahre in Frage gestellt.

Vielleicht besteht die wesentliche Eigenheit des Menschen darin, Fragen zu stellen und Dinge in Frage zu stellen.

Auch seine homozentrische Schöpfungslehre.

Man wechselt die Politik, die Religion und die Ideen - sogar sehr viele Ideen seit einigen Jahrtausenden der Menschheit. Sri Aurobindo sagte: "Das Mental ist eine unendliche Schlange, die sich endlos um sich selber windet." Das kann lange so weitergehen. Wechselt man aber den Menschen?

Nicht den Menschen "verändern", denn er ändert sich sehr leicht, wie das Kamäleon, bleibt dabei aber vollkommen ein Kamäleon - nicht mehr allzu vollkommen in letzter Zeit. Doch vom Menschen, der als Homo sapiens bezeichneten Spezies, zu etwas anderem übergehen, wie die kleine Eidechse nach dem Fisch, nur vielleicht noch radikaler? Mit ihrem stets gegenwärtigen Humor sagte Mutter (über die Reinkarnation): "Man hängt den Mörder, schön und gut, aber er macht in einem anderen Hemd weiter." (!) Das Menschenhemd wird allmählich sehr alt. Die Mörder auch. Unsere Ideen auch - noch eine Windung um die große Schlange?

Darwin untersuchte Iguanas, Schildkröten und Gürteltiere - die lassen sich wenigstens untersuchen, und sie fossilisieren ohne Päpste und Posaunen und auch ohne Ideologie. Aber schließlich wechseln die kleinen Fische auch ihre Hemden, und wie sich eins aus dem anderen ergibt, sozusagen von Hemd zu Hemd, werden sie vollkommene Menschen - mit welchem göttlichen Recht? Und für immer?

Vor nicht sehr langer Zeit erklärte ein "großer" amerikanischer Staatschef ungeniert: "Wir stehen an der Spitze der Welt." Aber auch das wird zu fossiler Materie werden, ohne Unterschiede der Ideen oder der Religion - meßbar an der Masse der Kalkablagerungen.

Stellen wir also die Frage, die uns erlauben würde, etwas anderes zu werden als eine bestimmte Menge Kalk in einem bestimmten Hemd.

Ich wunderte mich schon immer - jedenfalls seit Lamarck1, der seine Zoologische Philosophie genau in Darwins Geburtsjahr zu schreiben wagte -, warum diese provisorischen "Chefs" der Zoologie sich nie fragten: Nach dem Menschen, wer?

Mit so vielen Kanonen und sapiens, wie könnte man da dieses Hemd entthronen? Die vorzeitlichen und königlichen Affenweibchen hätten auch nicht anders "gedacht", die Hammerhaie und Tyrannosaurier auch nicht.

Vor allem aber stellt sich die Frage: Nach dem Menschen - wie?

Hier gelangen wir zur angewandten Zoologie oder zum Evolutionismus in vivo.

Es ist durchaus möglich, daß all diese Milliarden Jahre der Evolution nur auf den einen Punkt zustrebten, wo eine einzige Spezies fähig wäre, sich über sich selbst zu beugen - nicht um ihre Welt, ihre Flossen, Pfoten oder "Ideen" über die Welt zu verbessern, sondern um diesen Haufen Kalk und Gewebe zu untersuchen und zu entdecken, was daraus hervorgehen könnte: wie sich das willentlich verändern läßt, durch welchen Mechanismus und durch welche innewohnende Macht?

Hier geht es um nichts Geringeres als eine zoologische Revolution. Wir suchen nichts Geringeres als den Hebel oder die verborgene Sprungfeder, die dennoch diesem Körper innewohnt, um uns die Pforten einer Neuen Evolution zu öffnen, wie es sie seit den ersten Einzellern vor drei Milliarden Jahren noch nie gegeben hat: die Evolution II.

Ja, es ist ein wenig wie ein "Mordgeständnis", eine Ungeheuerlichkeit anti-wissenschaftlich, anti-religiös, ja sogar anti-menschlich. Aber waren die ersten kleinen Seehunde je anti-Fisch? Die Evolution ist "anti" gegen nichts: sie schreitet voran. Und sie spottet über unsere Anmaßungen.

Mit all unserem Klüngel und Gerümpel sind wir vielleicht erst die Vorgeschichte des Menschen.

Du brichst den Hügel unseres Wesens inzwei
weil er dir nicht die eingekerkerten Schnelligkeiten
des Lebens hingab.

Rig Veda, V.54.5


2. Das günstige Milieu

Ich war genau dreißig Jahre alt, als ich mich in dieses Abenteuer der Zukunft des Menschen stürzte. Nennen wir es, um es einfach auszudrücken, den Herstellungsvorgang dessen, was auf den Menschen folgen wird - nicht seine "Verbesserung" bezüglich Heiligkeit, Intelligenz, Handlungsmittel, "Erfolgs"-Macht, nichts um den Artgenossen in Staunen zu versetzen, denn mir ging es entschieden um die nächste Art. Die gegenwärtige Zoologie, selbst wenn sie wissenschaftlich oder sogar spirituell war, erschien mir wie eine schlechte Fälschung mit häßlichen Kavernen und Schluchten oder ohnmächtigen Höhen ohne Zukunft außer in problematischen Himmeln. Es ist wahr, daß Indien uns mit seinem Reinkarnationsbegriff rationalere Öffnungen bot: man geht von Leben zu Leben, wächst, stopft die Löcher alter Schwächen durch erneuerten Mut, besiegt den Feind, den man nicht zu exorzisieren verstand oder nicht erkannte; der Film läuft weiter, um die Niederlagen in neue Kräfte zu verwandeln und die alten, zu Gefängnissen gewordenen Erfolge niederzureißen. Man weitet sich, der Blick umfaßt immer mehr Menschheit. Doch letztlich bleibt es immer dasselbe Drehbuch mit verschiedenen Höhepunkten und Tiefen oder wechselnden Farben. Man liebt, lacht, weint. Dann betrachtet man das menschliche Drehbuch in seiner Gesamtheit und nicht mehr nur in Bezug auf sich selbst und die eigene Befriedigung. Die Geschichte nimmt ein Leben an wie das eigene. Das Spiel der wettstreitenden Kräfte, der kollektive Hypnotismus des Augenblicks, der menschliche Fortlauf tritt sichtbar hervor. Konturen zeichnen sich ab und Bruchlinien wie wandernde Kontinente des vorzeitlichen Gondwana... die wohin driften? Dann diese wachsende Masse, die sich mehr in Grobheiten vermehrt als in Verfeinerung, die sich immer mehr vervielfältigt, wie ein Stein am Hals der Erde. Was kann man für all das tun?
Der Evolution ist die Kunst eigen, sich des Schlechten ebenso zu bedienen wie des Guten: alles dient zum Vorwärtsgehen, die schlimmsten Katastrophen sind ihre besten Anlässe für Erfindungen und Entdeckungen (Ent-Deckungen). Alles Verneinende und Widerstrebende wird ebenso ihren Ofen heizen wie ihre Propheten. Man muß sich schon eingestehen - wie ich es tat, als ich nach Indien zurückkehrte -, daß die "Umgebung" nicht günstig ist, das heißt sie ist höchst günstig für etwas anderes. Auch Indien spricht von "Pralaya", dem Untergang der Welt, aber um wieder eine neue anzufangen: demnach soll es sechs "Pralayas" vor unserer gegenwärtigen Erde gegeben haben. Siebenmal die Erde. Sieben evolutionäre Drehbücher... um bei einem intelligenten und mehr oder weniger zerstörerischen Hominiden zu "enden", der sein besonderes kleines Drehbuch abwickelt, sich vermehrt und wieder von vorne anfängt - bis auf den Tod? Und dann eine achte Erde anfangen? Es muß doch trotz allem einen höchst ungünstigen Augenblick geben, der ein günstigeres Milieu oder Wesen entstehen läßt, das der Schönheit und Dauerhaftigkeit der Erde besser entspricht. Der als "sapiens" bezeichnete Homo ist keineswegs dieses Instrument, obgleich er sehr wohl dazu dienen mag, das nächste Wesen herzustellen: nur, durch welchen körperlichen, physischen Mechanismus? Es muß doch einen geben, nach all den kleinen Tieren, die vor uns kamen. Die Evolution interessiert sich genausowenig dafür, unsere Hirnwindungen, Autobahnen, Flugzeuge oder phantastischen Ideen zu vervielfältigen, wie sie die Zähne des Haies oder die Beine des Tausendfüßlers mehren will. Aber sie kann sich unserer eigenen Erstickung bedienen, um unsere Mauern niederzureißen, wie sie eines Tages die austrocknenden Sümpfe benutzte, um den alten Fisch zu nötigen, eine andere Atmung zu erfinden. Der Fehler ist stets zu glauben, die kleinen Tiere - seien sie wissenschaftlich, akademisch oder päpstlich der einen oder anderen Richtung - wären das endgültige "Milieu": sie grenzen unser Gefängnis ein, das ist alles, wenn auch jeder dasselbe Geheimnis in seiner Haut trägt. Die Evolution sprengte mehr als ein Gefängnis vor uns - mit demselben Geheimnis in der Haut jedes kleinen Gefangenen. Und vielleicht ist ihr letztes Geheimnis - das, was sie antreibt, was sie bewegt -, endlich das Wesen ohne Gefängnis hervorzubringen, nicht mit Hilfe eines weiteren künstlichen Werkzeugs sondern mit genau dem, was schon im Herzen des ersten Einzellers und des ersten Atoms zugegen war.
Was ist dann dieses "Ding", das kein Wissenschaftler unter seinem Mikroskop sah, kein Priester von seinem hohen Stuhl und kein Mensch vor seiner Nasenspitze?
Dennoch sahen die Wissenschaftler es, manche Weisen berührten es flüchtig, und zahlreiche einfache und unglückliche Menschen atmeten es. Aber niemand brachte die drei Dinge in einer einzigen menschlichen Physiologie zusammen.
Wenn wir 1+1+1 zusammenbringen können, werden wir eine neue Spezies auf der Erde hervorgebracht haben.
Der Schatz des Himmels
verborgen in der geheimen Höhle
wie das Kleine des Vogels,
innerhalb des unendlichen Felses

Rig Veda, I.130.3


3. Die beiden Enden der menschlichen Erfahrung

Manchmal öffnet sich das menschliche Panorama vor unseren Augen oder springt mit einem Schrei in unserem Herzen auf. Das Elend, die Schönheit inmitten der Not, das Unendliche, das mit einem Flügelschlag aufreißt, und dann wieder die langen grausamen Nächte, die Barbarei der Menschen, die Leben, die sich wie Vögel im Wind und verlorene Lieben zerstreuen, und etwas pocht und pocht in der Tiefe von all dem wie das Meer und das Meer, etwas, das beharrt und sich stößt und weiter liebt und immer liebt. Ein wildes und erhabenes Paradox, eine Suche ohne Unterlaß, blutige Wege, leuchtende Wege, Durchbrüche auf Schluchten oder Himmel, und wieder das Grab, immer das Grab. Gewiß erforderte es einige Götter und Träume, um diese Verzweiflung zu trösten und dieses Unglück zu beschwichtigen. Es erforderte ein Leuchtfeuer, um in diesen Wirren zu navigieren, wo das Entzücken das Gesicht des Monsters annimmt und die Teufel sich in Gold kleiden. Unsere Tempel zerstreuen sich in der Wüste wie die Vögel unserer Leben und die wiederholten Schreie unserer verschwundenen Zivilisationen - aber das schreit und schreit weiter. Und wer schreit da? Wie ein Vogel im Grab, der immer wieder zurückkehrt, um sein Lied und sein Leid zu singen.
Vielleicht lag genau dieser Schrei am Anfang unseres Wegs vor vier Milliarden Jahren in einem ersten Grab eines Einzellers. So vergeblich und so mächtig, daß er die Zeitalter ablaufen ließ und die Arten trotz allem, oder wegen allem.
Was vermag unsere gesamte Wissenschaft, so neu auf diesem gebrechlichen Grat eines kleinen Jahrhunderts nach all diesen Jahrtausenden? Sie kann die Atome unseres Grabes zählen und uns bis auf die brodelnde Oberfläche der Venus befördern, um noch mehr Atome zu zählen und Galaxien, zerstreut wie unsere Träume. Sie kann alles zerstören, schön und gut, das ist ihre große Schöpfung. Jedes ihrer Wunder ist ein nagelneuer kleiner Tod, von dem sie euch mit einem weiteren kleinen Tod heilt - das ist so "neu" wie die Sandkörner der Nubischen Wüste. Dennoch war sie höchst nützlich, um eine gut dokumentierte Menschenhorde hervorzubringen, fest eingezwengt in ihr Gefängnis und schreiend genug. An diesem Ende scheint das Geheimnis nicht zu liegen: durchs Mikroskop betrachtet nützen unsere Atome zu nichts, und mit Zyklotronen zerschmettert verursachen sie Unfälle. Trotzdem liegt auch dort ein Schrei und ein Geheimnis, aber nicht unser Getöse wird es freisetzen, nicht mehr als der Affe durch Bäumeschütteln das Gesetz der Früchte entdeckte, selbst wenn die Ernte gut war. Aber es ist eine bittere Ernte. Letztlich gibt uns dieses Ende der menschlichen Erfahrung nur "Tricks" und Masken - einen Frankenstein - und keine mächtige Wirklichkeit, die sich selbst befreien und bewegen könnte und uns die goldene Frucht der Jahrtausende eröffnet.
Die Atome muß man stolpernd im eigenen Körper entdecken. Die Zellen muß man in der schrillen Nacht des Schmerzes suchen. Man muß mit nackten Händen und mit nacktem Schrei hineintauchen, ein anderes direktes Mittel gibt es nicht.
Mit welcher "durchdringenden" Macht gelangen wir nun auf den Grund dieses physiologischen Lochs, so starr wie Basalt und so scharf wie eine Neuralgie? Meistens stirbt man dabei, oder man muß warten, bis man stirbt, um zu entdecken, was es ist.
Der Körper ist die größte Unbekannte - warum zu Mars und Mond fliegen, wenn alle Universen hier sind? Und alle Geheimnisse aller Universen liegen in einer kleinen Zelle.
Dorthin muß man aber hinabsteigen.

* * *

 Dann gibt es das andere Ende der menschlichen Erfahrung.
Das himmlische Ende.
Dieses ungeheure Mißverständnis.
Auch dort ist das Panorama breit, all diese inbrünstigen Leben von einem Lichtblitz erfaßt, die zärtlichen und stammelnden, von großem Mitleid für die Welt ergriffenen Leben, die unverstandenen Leben verloren in einsamer Erleuchtung, die Kehle von abgrundtiefem Verständnis zugeschnürt, Leben zerrissen vom gebieterischen Verständnis dessen, was die Welt retten könnte, und die Hände fallen, machtlos und betrübt im Gewühl, diese Leben über Leben brennenden Diamantes, unauslöschlichen Feuers, der Suche und der Fragen mit dem Schwert im Herzen und geballten Tränen wie eine Liebe ohne Antwort, dann die eisigen Morgengrauen, wo das Leben auf einmal in triumphierender Freude fällt, ein unermeßlicher Blick, der alle Leben wie die unvollendete Brandung eines großen Ozeans umfaßt - ein Schrei des Seins auf immer jenseits aller Schmerzen und aller Gräber.
Doch dieser arme Mensch schreitet Schritt für Schritt weiter in der Nacht und im Gewühl, er kennt sein eigenes Geheimnis nicht, er weiß nicht, daß dieses Brennen im Herzen, die nach innen gekehrten Tränen, das Stolpern ohne Antwort bereits die eigentliche Antwort ist, die wächst und wächst, ohne Worte, ohne Evangelium, brennend wie das erste kleine Feuer, das all diese Zeitalter und Schmerzen in Bewegung brachte, auf diesen unsäglichen Spannungspunkt zu, wo das Wesen, ein Wesen, endlich aus seinem alten Panzer ausbricht, Meister seiner eigenen Macht, ohne die anderen zu erdrücken, Kenner seiner eigenen Welt ohne Kunstgriffe, Liebender von allem, was lebt, ohne tödliche oder unsterbliche Gesetze zu erlassen, denn es weiß, was unter all unseren fruchtbaren Fehlern und Fehltritten in der Nacht reift und wächst.
Lerne zu brennen, wird es einfach sagen.
Benutze alles, um das Feuer innen zu entfachen.
Und das Ziel ist gewiß, denn es entbrannte mit dem ersten Stern.
Doch in der Zwischenzeit...
In der Zwischenzeit sind wir diese unvollendete Brandung auf einer brausenden Küste. Dann empfindet man einigen Zorn gegen all diese mit einer Bischofsmütze versehenen, behüteten, beturbanten oder kahlrasierten Scharlatane, die euch von der Spitze ihrer Minarette oder Kirchentürme ihr "Gottesgesetz" verkünden und sich all dieser kleinen einfachen Feuer bemächtigen, um ihren eigenen Einfluß zu stärken oder ihr gewinnbringendes Theater aufzuziehen. Trotz alledem enthielt jeder - jeder - dieser kleinen oder großen in unseren Wüsten zerstreuten Tempel einen kleinen Lichtzipfel, einen kleinen Schrei des Durstes, der den großen Durst löschen, den alten Schmerz lindern, die Hoffnung schenken wollte. Dann Mauern, immer Mauern, um den Lichtzipfel, den erhaschten Schimmer einzusperren. "Jeder nimmt einen Zipfel und macht daraus sein Ganzes", sagte Mutter. Und letztlich lag die Hoffnung stets im Himmel, die Erlösung jenseits der Gräber, fern von diesem ganzen leidigen Schlamm - diesem ersten Schlamm, aus dem wir alle hervorgingen und der unser außerordentliches Geheimnis hütet.
Ein ungeheures Mißverständnis.
Die beiden ausweglosen Enden der menschlichen Erfahrung. Eines oben zur Flucht, eines unten zum Tod.
Man müßte 1+1=3 setzen. Denn wir sind die dritte unglückliche Ziffer, der Schmelztiegel, in dem die Begegnung von Himmel und Erde ausgearbeitet wird.
Die dritte Spezies nach unserer pflanzlichen und animalischen Physiologie.
Folge dem leuchtenden Faden,
der durch die Zwischenwelt
gespannt ist

Rig Veda, X.53.5


4. Der Faden

Wollen wir in diesen Körper hinabsteigen, in dieses Produkt des Schlamms und des Tieres, um sein evolutionäres Geheimnis freizulegen, brauchen wir, wie bereits erwähnt, eine ziemlich "durchdringende" Macht, aber ohne zerschmetternd und blutig zu sein wie die unserer Mechanik. Als direkte, natürliche Macht kennen wir eigentlich nur die des Mentals, es ist unser Werkzeug höherer Affen. Wir wissen zur Genüge, wozu es nutzte, wir kennen seine Schönheiten und seine Schrecken, seine endlosen fruchtbaren und katastrophalen Purzelbäume und seine unterirdischen, unter-mentalen Erforschungsversuche, die uns große Mythen und verkrampfte Träume erbrachten, in denen sich Teufel und Genies, Schlangen und Schönheiten mischten: ein gestutztes Wissen und trotz allem nur knapp unter der Haut, denn wir sind noch sehr jung in dieser Geschichte. Es ergibt sich die erstaunliche Feststellung, wie wir doch in allen Bereichen der Zauberlehrling sind, der es sehr gut versteht, die Kräfte zu erwecken, ohne sie beherrschen zu können.
Dennoch gab es auch Dichter: "Millionen goldene Vögel, o zukünftige Lebenskraft..."2 Kämen die über-mentalen Höhen womöglich dem Geheimnis und der gesuchten "Lebenskraft" näher?
Als Kind steckte man mich in ein Internat für widerspenstige Bälge außerhalb Paris: dunkelblaue Uniform mit engem Kragen und Goldknöpfen bis an den Hals. Alles nötige, um einen zu ersticken. Sonntags gingen wir dann schön geordnet in Viererreihen im Wald von Verrières spazieren. Charmant. Eins-zwei-drei-vier, dazu eine Kappe mit einem goldenen Abzeichen im Blau. Eines "schönen" Sonntags - ich weiß nicht, was mich überkam - begann ich, um die Lage etwas zu erleichtern, meinen 1-2-3 Reihenkameraden Geschichten zu erzählen: Geschichten, die mir völlig unbekannt waren, die ich nirgends gelesen hatte. Das war sehr sonderbar, als fiele mir das auf den Kopf und lief dann ganz von alleine ab. Ich habe keine Ahnung mehr, was ich erzählte (ich wußte es nicht einmal, während ich es erzählte!), aber die Tatsache blieb sehr lebendig in meinem Bewußtsein. Es war wie ein Wissen oder eine Wissensquelle oberhalb meines Kopfes. "Betrachtete" ich auch nur einen Augenblick, was ich erzählte, verwischte sich alles, und der Faden ging verloren. Es gab einen "Faden".
Das war meine erste Fährte, und mehr als fünfzig Jahre lang verfolgte ich sie unablässig.
Dieses "Ding" über meinem Kopf war trotz allem sehr überraschend. Und wenn ich mich auch gelegentlich als Dichter fühlte und mit anhaltendem Erstaunen an diesem Faden zog, um zu sehen "was das ergab", so genügte es mir nicht, Inspirationen zu haben oder Romane zu schreiben - mich interessierte das menschliche Abenteuer, das man mit den eigenen Schritten und Schmerzen formt. Mich interessierte dieses Unbekannte, die Herstellung der Zukunft, denn das Gegenwärtige erschien mir in jedem Fall so erstickend wie das Internat in Verrières.
Mußte man den "Faden" noch höher ziehen?
Nach zahlreichen Fährten im Westen und Süden der Geographie, die mich nichts lehrten außer das menschliche Elend und mein eigenes, sowie ein inneres Feuer, das wie eine schlecht aufgefangene Explosion wuchs, nahm ich Kurs nach Osten - Indien. Ein Land, wo der "Faden" immerhin nicht in einer Religion endete - außer es wären Millionen "Religionen", so viele wie es Menschen gibt, was bereits nicht schlecht war. Mir mangelte es nicht an "Himmeln" sondern an Menschheit. Die "Erlösung" ist höchst interessant für die Erde, nicht für einen einzelnen Biedermann.
Da sagte mir Sri Aurobindo (nicht mit Worten): Höher, noch höher, dort findest du die große Lebenskraft.
Diese hohe Fährte verfolgte ich... zwanzig Jahre lang, bei Mutter, die mich alles lehrte, und dann alleine, als ich die Dinge etwas unmittelbarer in meiner eigenen Tierphysiologie zu berühren begann. Wenn man ganz alleine ist, muß man wohl oder übel mit den vorhandenen Mitteln auskommen. Letztlich bleibt einem nur ein Mittel, und zwar Durst zu haben, aber einen Durst zum Krepieren. Dann findet man notgedrungen den Fluß, oder man krepiert. Aber das war eine Sturzflut von "Fluß" - ein Niagara. Eine ungeheure, unbekannte Lebenskraft. Eine ungeheure, durchdringende Macht.
Ich kann nur sagen, was ich weiß. Was ich erlebte, berührte, trank. Und die Erfahrung läuft noch, man weiß nicht, wie es enden wird. Es geht nicht darum, Theorien zu machen - noch eine weitere -, sondern um Geographie, etwas stolpernd, weil es unbekannte Fährten sind. Vielleicht ist es auch eine Geologie: immer erdrückender, wenn man tiefer eindringt und das Bohrloch bis zum ersten kleinen Tier zurückreicht.
Doch zuerst muß ich das Rätsel dieses "Fadens" erzählen und wie einen das Ganz-oben zum Ganz-unten führt, dort wo die Veränderung stattfindet, am Tor des ersten Grabes zu Anbeginn der Zeiten.
 
 


5. Die Tore der Sonne

Da ist ein Rätsel.
Wahrscheinlich das mächtigste Rätsel in der Nacht von vor den Sphinxen - und es hängt an einem Faden. So dünn, so zerbrechlich inmitten all unseres Getöses, als wollte alles ihn verdecken, verfälschen, entstellen - die Religionen ebenso wie die Wissenschaften - und die Quelle durch Fernsehantennen ersetzen, die uns nur unser eigenes Chaos kundgeben, oder durch Kirchengesänge, die nur unser eingemauertes Schicksal herunterleiern.
Wie diesen "Faden" erwischen? Ich kann es nicht sagen. Wie diese mentale "Linie" überqueren, um Zugang zur Welt des Wissens oberhalb des Kopfes zu erhalten? Für mich vollzog sich diese Operation ganz natürlich, unbemerkt wie die Waldluft in Verrières, aber wahrscheinlich hatte sie sich lange vorbereitet unter dem einen oder anderen "Hemd" vergangener Zeiten, zerlumpt oder mit Goldknöpfen, und etwas darin, darunter erstickte, stieß sich, lehnte sich auf gegen diesen Schädelpanzer oder den des Atavismus und ließ sich hier oder dort hängen, um unter einem anderen Hemd wieder anzufangen - Durst, ein großer Durst nach etwas anderem. Einen anderen Mechanismus gibt es nicht für diese Operation, wie der alte Fisch, der es leid ist, im Kreis zu schwimmen, und der eine andere Luft atmen will. Immerhin ist es schon symbolisch, daß ich des Phänomens gewahr wurde, während ich in Viererreihen unter enghalsiger Uniform und Sonntagshut einhermarschierte.
Diese menschliche Situation muß dringend "erleichtert" werden.
Dieser Schädelkasten ist so widerspenstig wie der Panzer der Trilobiten, und dieser arme "Faden" wurde von überholten Mystikern so entartet, daß wir nicht mehr an unsere eigenen Quellen zu rühren wagten! So stürzten wir in einen Rationalismus, der genauso bigott geworden ist wie sein religiöser Kontrahend - "ich denke, also bin ich" oder irgendein anderer Gipfel philosophischer und anthropologischer Dummheit: ich schwimme, also bin ich; ich krieche, also bin ich; ich klettere in den Bäumen, also bin ich... und so lassen sich alle unsere evolutionären Instrumente aufzählen, doch was ist ? Was pocht unter diesem oder einem anderen Hemd eines Krebstieres oder Hominiden, was läßt es werden ? Gibt es eine Quelle dieses Werdens, die bewirkte, daß der kleine Fisch trotzdem etwas anderes wurde, ohne daran zu denken? (!) Unsere Philosophen mögen behaupten, wir wären eine "vergebliche Leidenschaft"3, doch diese Leidenschaft begann trotzdem vor den Protozoen.
Und es geht weiter.
Das Rätsel bleibt trotz allem rätselhaft, folgt man nämlich dem Faden, wie ich es tat, folgt man ihm geduldig immer weiter durch wohlbekannte Yogamethoden, so landet man in weiten Reichen, welche die Menschen wohl erfrischen würden - Räume des Friedens und Lichtes, Ausbrüche spontanen Wissens, Ozeane der Freiheit, wo die Lachmöwen über den Schaum schießen; klare Tiefen, in denen eine so alte Zärtlichkeit zu lächeln scheint und manchmal abgründige Höhen, wo alles verschmilzt wie in einer Liebe von immer. Da gibt es nichts mehr zu "wissen": es ist. Und das ist alles, was ist. Alles ist umarmt, für immer getröstet.
Könnten die Menschen ein wenig von dieser Luft atmen, würden sie ohne jeden Zweifel besser leben. Dennoch liegt es in ihrer Reichweite, nicht einmal so hoch, wie man glaubt.
Zieht man den Faden aber noch etwas weiter, beginnt uns der Kopf wie im Schlaf zu wanken. "Sie verfallen dem Schlaf im Unendlichen", sagte Sri Aurobindo mit seiner unvergleichlichen Ironie. Und beharrt man weiter, stößt man an eine weitere, letzte Barriere oder besser gesagt, wird abgehalten von... etwas, einem so dichten Strahlen, daß es für unsere physische Aufmachung undurchdringlich ist: "Das Antlitz der Wahrheit ist von einer strahlenden goldenen Platte verdeckt", sagt die Upanischade. Man erreicht die "Tore der Sonne", Suryasya Dvara , die noch kein Mensch überquerte, ohne seinen Körper zu verlassen.
Von dort kehrt man nicht lebend zurück.
Zwischen der mentalen Linie und dem äußersten Ende der über-mentalen Linie liegt das gesamte Feld der bekannten menschlichen Forschung - Buddha und einige andere drangen bis dorthin vor: glückselig verschwanden sie im Nirvana.
Ist das wirklich alles?
Er spaltete die Dunkelheit,
wie man eine Tierhaut aufspannt,
um unsere Erde
unter dem Licht seiner Sonne auszubreiten

Rig Veda V.85.1


6. Sri Aurobindo

Vier Milliarden Jahre und Schmerzen, um dort oben in Ohnmacht zu fallen?
Das wäre monströs.
All diese Gräber sind monströs.
In einer Zelle des zum Tode Verdammten schrie ich - und wieviele Male davor?
Ist der Mensch tatsächlich eine "vergebliche Leidenschaft" und dieses ganze evolutionäre Massaker eine tödliche Unvernunft und unsere schönsten Gesänge ein Schrei der Schönheit und Tapferkeit gegen dieses Eiserne Schicksal, so verstehe ich, warum all die kleinen vergeblichen Leidenschaften heute Maschinengewehre an sich reißen für nichts und die großen Habgierigen der Welt Bomben anhäufen, um diesen Horror zu vernichten. Und einen weiteren Horror hinzufügen.
Und alle unsere Himmel werden uns nie trösten.
Ist die Erde aber getröstet?
Was sagt uns Buddha (und die anderen) angesichts dieses Elends der Tiere und der Bäume und der ausgehungerten Kinder? Welche Botschaft haben sie? Es gibt keine Botschaft, außer die eigene Haut und Physiologie zu ändern und ein anderes Wesen auf der Erde hervorzubringen, das die Richtung der Evolution umdreht.
Begeben wir uns ein wenig in die Tatsachen anstatt in Philosophie.
Es gab einen leibhaftigen Mann, der Revolutionär war und gegen die britische Tyrannei in Indien kämpfte. Inmitten seiner Handlung, und nicht in asketischer Zurückgezogenheit, wurde dieser sehr solide und mit all unserer westlichen Vernunft begabte Mann, als er eines Tages in Bombay, dieser Stadt aller Fäulnis und allen Elends, auf einer Veranda einherging, plötzlich ergriffen, nach oben gerissen und vom Nirvana verschluckt - wie Buddha zweitausendfünfhundert Jahre früher.

... Ein Riff,
das in einen uferlosen Abgrund sinkt
Die Welt ist vorüber
 
 

Vier Monate später wurde er von den Engländern verhaftet, in eine Zelle in Kalkutta gesperrt und erwartete, gehängt zu werden.

 Das war Sri Aurobindo.
Vielleicht hatte er diesen Schrei?
Diesen Schrei seit wievielen Malen, seit wievielen Toden?
Seit wievielen untröstlichen Schrecken?
Ohne Zweifel war er weise und unerschrocken geboren worden, denn anstatt sich nutzlos aufzulehnen, zog er schweigend weiter an dem "Faden". Da sagte ihm eine brüderliche Stimme von jenseits der Gräber (es war Vivekananda): Höher, noch höher, jenseits der letzten Linie.
Nach einem Jahr in der Zelle wurde er freigesprochen und flüchtete nach Pondicherry, ins französische Indien, wo er vierzig Jahre lang, von 1910 bis 1950, das Unbekannte jenseits der letzten Linie erforschte und durchpflügte.
In einem gelassenen Brief - alles war so gelassen und transparent in diesem Wesen aus Fleisch und Blut - beschrieb er in schlichten Worten sein menschliches Panorama und sein Ziel:

Nur indem er sich zu einem höheren Bewußtsein erhebt, jenseits der mentalen Linie... wird der Mensch seine Unfähigkeit und sein Unwissen verlassen können. Seine volle Befreiung und seine Erleuchtung werden kommen, wenn er die Linie überquert und das Licht eines neuen überbewußten Daseins betritt. Derart ist die Transzendenz, welche die Mystiker und spirituellen Sucher als Aspiration und Ziel anstrebten.
Aber dies für sich genommen würde nichts an der Schöpfung hier unten ändern; die Flucht einer befreiten Seele aus der Welt macht für diese Welt keinen Unterschied. Könnte diese Überquerung der Linie jedoch umgekehrt werden und nicht nur einem aufsteigenden sondern einem herabsteigenden Ziel dienen, bedeutete dies die Transformation der Linie von dem, was sie jetzt ist - ein Deckel, eine Barriere -, in einen Durchgang für die höheren Bewußtseinsmächte des Wesens, die jetzt oberhalb der Linie liegen. Es bedeutete eine neue Schöpfung auf der Erde, ein Eindringen der äußersten Kräfte, welche die Verhältnisse hier umkehren würden.

 Vierzig Jahre lang wirkte Sri Aurobindo für die "Umkehrung der Linie", bearbeitete dieses unbekannte Feld der Evolution II , die die Gesetze unserer menschlichen und irdischen Verhältnisse umkehren wird - alle Gesetze, wie sie seit vier Milliarden Jahren wissenschaftlich, religiös oder zoologisch bestehen.
Das erscheint ein wenig verrückt, aber wie erschiene auch diese schöne Möwe in unserem Himmel dem ersten Granit?

Ich glaube, ich kann behaupten, Tag und Nacht über Jahre und Jahre hinweg gewissenhafter experimentiert zu haben, als ein Wissenschaftler seine Theorie oder Methode auf der physischen Ebene prüft.

 Allerdings ist dies eine Methode am lebendigen Leib.
Vierzig Jahre des Experimentierens und der Einsamkeit unter allgemeinem menschlichen Unverständnis... Das ist eine lange Navigation und, wie wir selber lernen werden, eine gefährliche, verglichen mit welcher Darwins Kreuzfahrt an Bord der Beagle vergnüglich erscheint.
Doch am Ende erreichen wir - vielleicht - diese "durchdringende" Macht, welche die "Millionen goldenen Vögel" des Dichters aus ihrem Käfig befreit.